Düsseldorf Rousseau – unser Zeitgenosse

Düsseldorf · Vor 300 Jahren wurde der schweizerisch-französische Denker geboren. Aus heutiger Sicht erscheint er als vielfacher Neuerer: als erster "Öko", als Occupy-Vordenker, erster Sozialist und erster Reformpädagoge. Dabei war er mehr Theoretiker als Praktiker. Seine fünf Kinder steckte er in ein Heim.

Vor diesem Namen geht man unweigerlich in die Knie – vor Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), vor einem der mutigsten Aufklärer und größten Enzyklopädisten, einem der klarsten Denker – und unter den vielen Intellektuellen seiner Zeit sogar einem der populärsten. Dass sein Name aus der beträchtlichen Distanz von nunmehr 300 Jahren immer noch zu uns herüberweht, hat einen weiteren, ehrfürchtig machenden Grund: Rousseau ist in seinem Denken derart modern, dass er einer von uns ist, nach wie vor ein Zeitgenosse, dem vermutlich nichts von all dem, was uns heute berührt und bedrängt, fremd gewesen wäre.

Rousseau also für den schnellen Hausgebrauch? Rousseau handlich und dienstbar gemacht fürs Aktuelle? Solche Fragestellungen zielen in die falsche Richtung: Wir zerren nicht Rousseau zu uns herüber, sondern schauen zurück auf einen Denker, der sich so bedeutender Themen annahm, dass diese auch heute noch die Menschen umtreiben. Und auch darin liegt seine Faszination. Was Rousseau demnach so alles dachte und begründete? Zuallererst wohl dies:

Rousseau – der erste Öko Das ist vielleicht das berühmteste Schlagwort, das einem zum gebürtigen Genfer in den Sinn kommt: Zurück zur Natur! Nur ist dieser ökologische Kampfbegriff nirgendwo bei Rousseau schriftlich belegt. Wahrscheinlich entspricht es eher dem Wunsch der Nachwelt, sein Denken auf einen Begriff zu bringen.

Rousseau huldigte in Wirklichkeit einem idealisierten Naturzustand. Der ist für jeden Zivilisierten zwar nicht mehr erreichbar; aber es ist sinnfällig, darüber nachzudenken. Im Rousseauschen Paradies ist alles gut, unverbildet und rein. Die Beziehungen unter den Geschlechtern? Nur animalisch und darum ohne jede Verwerfung. Die Existenz? Die Menschen leben zwar isoliert, sind dafür aber niemandem untertan. Eine Sprache? Gibt es nicht, auch keine Reflexion. Der erste Mensch ist faktisch nicht böse gewesen, denn weil er völlig selbstständig war, hatte er überhaupt kein Interesse daran, jemandem zu schaden.

Dieser Naturzustand ist pure Kultur- und Gesellschaftskritik. Schließlich sind wir alle von der Gesellschaft Verdorbene, Zivilisationsgeschädigte. So wird der Naturzustand für Rousseau zu einer Chiffre für die Sehnsucht nach so etwas wie Ursprung, nach einer Art Goldenem Zeitalter.

Das ist mutig, in der Zeit der Aufklärung aber – die immerhin das Hohelied des Denkens anstimmt – ist es geradezu verwegen. Auch darum finden sich zu Lebzeiten des Philosophen alsbald Kritiker ein, die Rousseau mit Häme küren. Der Berühmteste: Voltaire. Als dieser Rousseaus "Abhandlung über die Ungleichheit" gelesen hat, greift er zur Feder und schreibt dem wenig verehrten Kollegen: "Das Lesen Ihres Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen vieren herumzulaufen. Da ich jedoch diese Beschäftigung vor einigen sechzig Jahren aufgegeben habe, fühle ich mich unglücklicherweise nicht in der Lage, sie wieder aufzunehmen."

Rousseau – der Occupy-Vordenker Bei diesem Paradies aber belässt es Rousseau nicht. Denn ihm ist es schon klar, dass die Pforten hierzu für uns nicht mehr begehbar sind. Das hindert ihn freilich nicht an der Kritik gegenwärtiger Zustände; vor allem jener am Eigentum. Das Übel beginnt für ihn mit der arbeitsteiligen Ackerbaugesellschaft, und mit ihr beginnt die Zivilisation. Regeln werden aufgestellt, Abhängigkeiten entstehen. Plötzlich gibt es so etwas wie Arm und Reich. Schuld daran ist nach Rousseau vielleicht der erste Zaun gewesen, der erste Mensch, der auf die Idee kam, "ein Grundstück einzuhegen und zu behaupten: das gehört mir". Dieser Mensch ist für Rousseau der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Was darauf folgt: Verbrechen und Kriege, Mord und Elend. Und so sieht der große Denker viele Länder Europas schnurstracks dem Untergang, zumindest der Krise entgegeneilen. So früh hat sonst keiner eine Occupy-Bewegung ins Leben gerufen.

Rousseau – der erste Sozialist Um einiges früher ist eine andere soziale Bewegung auf Rousseau aufmerksam geworden: Karl Marx (1818–1883) hatte seine helle Freude an den Schriften des Philosophen, nicht nur an der grundlegenden Kritik des Eigentums, sondern auch an der von Rousseau postulierten "Volonté générale", einem Gemeinwillen, der sich im Volk zu bilden beginnt. Ganz zu schweigen von jenem berühmten Satz, mit dem Rousseaus Grundlegung des politischen Rechts anhebt: "Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten." Und wie die Präambel eines utopischen Sozialismus klingen solche Sätze aus dem 18. Jahrhundert: "Die Besitzer sind nur Verwalter des öffentlichen Guts. Der Souverän kann sich rechtmäßigerweise der Güter aller bemächtigen, wie das zu Sparta geschah." Nach dieser Lektüre muss ein Sozialist nicht mehr seine eigene Wortmacht bemühen.

Rousseau – erster Reformpädagoge Zwischen der Sehnsucht nach einem Naturzustand, der Kritik am Eigentum und der Unfreiheit des Menschen fehlt als Wink in eine bessere Zukunft ein wesentlicher Baustein: derjenige der Erziehung des Menschengeschlechts. Es ist diesmal keine philosophische Schrift, die Rousseau dazu entwirft. In guter pädagogischer Absicht gestaltet er sein Programm unterhaltsamer – mit seinem Erziehungsroman "Emile". Und auch das ist – auf andere Weise – revolutionär. Denn Kinder sollen nicht nach einem Schema erzogen und zu Kopien ihrer Erzieher gemacht werden. Kinder sind für Rousseau mündige Menschen, die es wert sind, in ihren persönlichen Fähigkeiten gefördert zu werden.

Rousseau entdeckt das Individuum von klein auf und spricht von guten Naturanlagen in jedem von uns, die nur reifen müssen. So ist seine Pädagogik eine eher passive. Denn sie besteht zunächst darin, verbildende Einflüsse – also alle Wirkungen des Gesellschaftslebens – vom Zögling fernzuhalten. Ein Meilenstein in der Pädagogik, eine Erziehungsvorstellung, die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus war.

Doch manchmal ist es auch so, dass Reformpädagogen vor allem gute Theoretiker sind, deren praktische Fähigkeiten zu wünschen übriglassen – bis in unsere heutige Zeit hinein. Und was Jean-Jacques Rousseau angeht, der heute vor 300 Jahren geboren wurde: Alle seine fünf Kinder steckte er kurz nach ihrer Geburt in ein Findelheim. Sie waren der zum Denken und Schreiben nötigen Ruhe ganz offenkundig abträglich.

(RP)
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