Interview "Merkel erschien glanzloser als gedacht"

Roger Willemsen verfolgte ein ganzes Jahr lang von der Zuschauertribüne aus die Sitzungen des Deutschen Bundestags. Am Ende zieht der Autor ernüchtert Bilanz und spricht von einem "Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee".

Herr Willemsen, mit welchen Erwartungen sind Sie in dieses politische Mammutprojekt gestartet?

Willemsen Ich habe erwartet, dass man aus der Perspektive des Bürgers, der voraussetzungslos guckt, mehr sehen kann als aus der Perspektive des tagespolitischen Journalisten. Ich hatte die Vermutung, dass da, wo alle Welt hinguckt, viel Unsichtbares ist. Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht.

Sie beschreiben Angela Merkel mit Gesten, die im Scharnier der Raute erstarren, mit Fleck am Revers und politischer Anästhesie. Was haben Sie außerdem Neues über die Kanzlerin erfahren?

Willemsen Sie erschien glanzloser, als ich gedacht hatte. Es ist rasant zu sehen, wie sie Verödungszonen ausdehnt, zu vielen Themen nicht spricht, obwohl es die Bevölkerung erwartet, etwa bei der NSA-Problematik. Und immer wieder entscheidet sie sich gegen die Mehrheit ihrer Wähler, etwa beim Gen-Mais.

Ist Merkel dennoch die Leit-Stute in diesem von Ihnen sogenannten ,Hollywood der Politik'?

Willemsen Ja, das ist sie. Ja, sie dirigiert mit stiller Autorität, und Volker Kauder macht den Ausputzer. Mitunter ist es blamabel, all die Unterwerfungsgesten ihrer Partei und jetzt auch der SPD zu erleben.

Sie vergleichen das Geschehen im Reichstag mit einem Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee. Wie kommen Sie darauf?

Willemsen Tatsächlich machen die vielen toten Rituale, Klischees und Stereotypen müde.

Einzelne Parlamentarier kommen besonders schlecht weg. Ist unser Parlament fehlbesetzt?

Willemsen Es gibt nicht wenige sachverständige Redner. Aber in den beiden Regierungen, die ich gesehen habe, gab es eklatante Fehlbesetzungen, auf Platz eins stand für mich Dirk Niebel. Niebel ist brachial, im Zweifel weicht er der Wahrheit aus, um es höflich zu sagen.

Sie notieren Desinteresse. Wie viel Disziplin erlebt das Hohe Haus?

Willemsen Die gibt es in manchen Debatten gar nicht. Nach Erscheinen dieses Buches schrieben mir Lehrerinnen, sie könnten niemandem raten, Schulklassen ins Parlament zu schicken. Die Kinder seien nach einer Stunde schon ,verstört' von der Tribüne gekommen.

Die Verachtung von Frauen wird nur noch durch die Verachtung der Armen gesteigert, schreiben Sie auf. In was für einem Land leben wir demnach?

Willemsen In einem Land, das sich so rasch ökonomisiert, dass bald alles nur noch daran gemessen wird, ob es markttauglich oder wettbewerbsfähig ist. Die Wirtschaftsfragen sind derartig dominierend in diesem Parlament, dass die Ideen für die Zukunft und die großen Veränderungen um uns herum kaum noch bearbeitet werden.

Welche Themen meinen Sie?

Willemsen Etwa die ökologischen Veränderungen, die klimatischen, die Migrationsbewegungen, die digitale Revolution - das alles wird nicht oder ausweichend behandelt, weil man immer nur auf die kurzen Fristen von Wahlkampf zu Wahlkampf guckt, weil man dem Volk nicht klarmachen kann: Es kostet, wenn Ihr den Planeten behalten wollt. Und bestimmte Industrien werden nicht mehr wachsen. Solche Botschaften sind nicht vermittelbar.

Ihre Präsenz umspannte die Neuordnung der Regierung, aus Schwarz-Gelb wurde Schwarz-Rot. Was sollten manche Minister anderes tun als jetzt Dinge zu verteidigen, die sie vorher gegeißelt hatten?

Willemsen Es ist einfach so: Unter Abstrich vieler Dinge, die man für essentiell gehalten hat, geht man in die große Koalition, nur um Regierungsbeteiligung zu haben.

Neudeutsche Wendehälse?

Willemsen Anders als mit Wendehälsen ging das gar nicht. Man muss Gabriels Aussagen zu Rüstungsexporten von vor der Wahl mal gegen die Aussagen legen, die er jetzt trifft, und Sie werden nicht glauben, dass es sich um denselben Sprecher handelt. Zur Snowden-Affäre hatte die SDP gesagt, ,Frau Merkel, Sie verletzen Ihren Amtseid durch Untätigkeit'. Das ist der höchste Vorwurf, den man jemandem machen kann. Und jetzt sind wir bei einer Situation, wo offenbar die ganze Große Koalition diesen Amtseid vernachlässigt. Das Prinzip Merkel - gib keine Interviews, zeig' so wenig Reibung wie möglich - überträgt sich jetzt auch auf SPD-Leute.

Was bleibt als stärkstes Bild aus diesem Jahr im Parlament?

Willemsen Leider der Schlaganfall einer Abgeordneten. Das war der Einbruch des Ernstfalls, die Sorge um das nackte Leben. Oder wenn drei weibliche Abgeordnete aus drei verschiedenen Parteien sich mit Frauenhandel beschäftigen und fraktionsübergreifend und sachverständig über das Thema reden, dann ist es eine gute Stunde für das Parlament. Da hat man eine Ahnung, was es leisten könnte, wenn man mal diese verfluchten Parteistrategien aufgeben würde.

Wie lautet am Ende Ihr Fazit ?

Willemsen Auf der einen Seite habe ich ein immer noch wahres Interesse an diesen parlamentarischen Prozessen, die mir heute durchsichtiger erscheinen als zuvor. Und ich habe eine größere Sorge, was die Verletzbarkeit der Demokratie angeht. Man findet sie schützbarer, bedürftiger als zuvor.

Wie schauen Sie nach vorne?

Willemsen Da bleibt ein Wunsch, alles Außerparlamentarische zu stärken. Humanitäre Initiativen, Petitionen, alles das, was an dieses Parlament herangetragen werden kann, alles, was das Unbehagen des Volkes an dieser parlamentarischen Form der Vertretung mit all seiner Eitelkeit, seinem Pomp, seiner Übertreibung, seiner Unglaubwürdigkeit ausmacht. Ich hab mal gesagt: Wenn das Parlament ein Mensch wäre, dann würde man es nicht zum Freund haben wollen. Es ist unzuverlässig, voller Selbstwidersprüche, bisweilen gnadenlos und dann doch wieder aufrichtig engagiert.

ANNETTE BOSETTI FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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