Poesie-Debüt-Preis im Heine Haus Zeitlosigkeit in Verse gegossen
Düsseldorf · Am 3. Oktober wird die Schweizer Lyrikerin Eva Maria Leuenberger auf der Grundlage ihres Gedichtbands „Dekarnation“ im Heine Haus mit dem Poesie-Debüt-Preis geehrt.
Die 1991 in Bern geborene Autorin Eva Maria Leuenberger hat sich früh einen Ruf als Lyrikerin erworben. Der Poesie-Debüt-Preis, der ihr am 3. Oktober im Heine Haus verleihen wird, ist nicht die erste Auszeichnung. Bereits seit 2014 sammelt sie Debütpreise und wird inzwischen in den Feuilletons als „genuin poetische Existenz“ (FAZ) wahrgenommen. Erarbeitet hat sich Leuenberger diese Wertschätzung vor allem durch ihre Ausbildung und ihrem Abschluss am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, vergleichbar mit dem in Leipzig angesiedelten Deutschen Literaturinstitut.
Auch nach dem Studium lebt die Lyrikerin weiterhin in Biel. Der als Hauptstadt der Uhrenindustrie bekannte Ort ist in seiner Verwaltung strikt zweisprachig. „Und dennoch gibt es hier einen Röstigraben, nicht geografisch, sondern kulturell,“ erzählt Leuenberger. Kulturaustausch zwischen den Kreativen der beiden Sprachen finde nur sehr begrenzt statt. Sie selbst spricht natürlich auch französisch. Und aus ihrem lokal benutzten schweizerdeutsch kann sie akzentfrei ins Hochdeutsche wechseln.
Ihr Debütband „Dekarnation“ ist schon im Titel starker Tobak. Tatsächlich hat die hier beschriebene „Entfleischlichung“ auch eine religiöse Dimension, wenngleich in einem ganz anderen Sinn als die „Menschwerdung“ des Gottessohns. In Tibet etwa, so erläutert die Autorin, bestattet man die Toten, nachdem man deren Gebeine vom schnell verwesenden Fleisch befreit hat. Organe und andere Gewebe dienen den Vögeln zum Fraß.
Der schmale Band besteht aus vier Zyklen. Sie beleben die Begriffe Tal und Moor, Schlucht, Bach und Wald. Beleben heißt hier, dass die Natur vermenschlicht wird: „der wind in den bäumen krallt / auf der Haut, und nur die Nacht / ist sicher / da sind die fenster offen: / atmen die luft, als wäre sie frei“. Mitten in der Natur trifft man indes auf die Toten, als durch das Moor konservierte Leichen wie die Frau von Elling oder den Tollund-Mann. Die dänischen Moorleichen haben, ägyptischen Mumien gleich, Jahrhunderte überdauert.
Zeitlosigkeit ist in Leuenbergers Versen ein unausgesprochener, gleichwohl zentraler Begriff. Ebenso wie Verwandlung. Die Körper gehen in ein in die Natur und werden von ihr absorbiert: „stell dir vor / die haut fällt von dir ab / wie die rinde / einer anderen zeit / am rückgrat wachsen blätter“. Wer bei der Lektüre an Ovid denkt, liegt richtig. Die 30-jährige Lyrikerin sieht sich geprägt von dem Autor der „Metamorphosen“, neben anderen großen Dichtern der Antike. Aber auch von englischen Schriftstellerinnen der klassischen Moderne. Zitate, vor allem von Emily Dickinson, finden sich auf englisch zwischen den Zyklen.
Mitten im Text selbst heißt es dann unvermittelt: „static“. Ein englisches Wort, das Leuenberger ganz besonders gefällt: „Da steckt so viel drin, Knistern, Störton, überspringende elektrische Ladung, großartig.“ Vielleicht auch einfach „Innehalten“, um manche Zeile ein zweites Mal zu lesen.
Ihr gerade erschienener zweiter Lyrikband „Kyung“ hat ebenfalls mit englischer Literatur zu tun. Die Schweizerin erinnert hier an Theresa Hak Kyung Cha, eine aus Korea stammende US-Immigrantin, deren einziges Werk „Dictée“ formal und thematisch eine große Bandbreite umfasst. Kyung erlebte die Publikation des Werkes nicht, weil sie einige Tage davor in New York vergewaltigt und ermordet wurde.
Leuenbergers Reise zur Preisverleihung ist zugleich ihre erste Begegnung mit Düsseldorf. Über die Bolker Straße hat man ihr noch nichts erzählt. Wohl aber, dass das Heine Haus eine ganz besondere Buchhandlung ist, wo die Literatur von zwei Hunden bewacht wird. Darauf freut sie sich.