Literarische Neuerscheinung Peter Handkes Ästhetik des Widerstands

Analyse · Der 78-jährige österreichische Dichter und Literaturnobelpreisträger schreibt in seinem neuen Buch, „Mein Tag im anderen Land“, über den Eigensinn als Triebkraft der Poesie.

 Der Schriftsteller Peter Handke auf dem Grundstück seines Hauses im französischen Chaville, im Südwesten von Paris.

Der Schriftsteller Peter Handke auf dem Grundstück seines Hauses im französischen Chaville, im Südwesten von Paris.

Foto: dpa/Francois Mori

Es gibt viele herrliche Episoden, die das Wesen von Peter Handke ganz gut einfangen. Eine der schönsten ist vielleicht die, wie der Schriftsteller 1971 beim Steirischen Herbst in Graz lesen sollte. Er kam ein wenig spät. Als er den überfüllten und deswegen gesperrten Saal betreten wollte, stellte sich ihm ein Polizist in den Weg und fragte, was er wolle? Peter Handke antwortete kurz: „lesen“. „Wenn du lesen willst“, entgegnete ihm der Polizist, „dann geh ins Kaffeehaus!“ Die Situation lief ein wenig aus dem Ruder. Kam es sogar zu Handgreiflichkeiten? Ein paar Monate später wurde Handke zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt.

Als wütender junger Mann betrat er die literarische Bühne und düpierte auch mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ (1966) den Kulturbetrieb. Im selben Jahr warf er den etablierten Schriftstellern der Gruppe 47 in Princeton „Beschreibungsimpotenz“ vor. Das Provozieren gehörte bei Handke immer dazu. Selbst zuletzt nach dem vieldiskutierten Nobelpreis (2019) noch, als er sich nicht erneut zur Serbien-Kontroverse äußern wollte, geschweige denn, sich entschuldigen, oder etwas zurücknehmen.

Mit „Mein Tag im anderen Land“ erscheint jetzt sein neues Buch. Eine „Dämonengeschichte“, wie es im Untertitel heißt. Und es geht darin um den Eigensinn als poetische Triebkraft. Den Widerstand als Kernstück der Dichter-Natur. „Ohne ihn, ohne sie, ohne es WIRD nichts. Ohne es, ohne ihn, nichts als Dasein, und Dortsein, und ewig seelenloses Sein.“

Ein Pindar-Zitat gibt als Motto den Ton: „Ich, Idiot, ins Gemeinwesen gestellt“, ist da zu lesen. Und im Folgenden erzählt ein von Dämonen besessenes Ich von seiner Läuterung. Schon als Kind sei er nicht bei Sinnen gewesen und wie ein Schlafwandler durch die Welt gegangen. Später stellte er sich ein Zelt auf den Friedhof und arbeitete als Obstgärtner. Ein Outlaw also, wie man ihn aus vielen Büchern Handkes kennt. Die Menschen im Dorf gehen ihm misstrauisch aus dem Weg, weil er ein Buch über den Obstbau geschrieben hat – „etwas für unsere Region Fremdes, gar Anmaßendes, wenn nicht Macht behauptendes“. Vor allem aber, weil er immerzu schimpfend und vor sich hin fluchend durch die Straßen geht. „Nichts war mir recht an der Schöpfung. Nichts an ihr ließ ich gelten.“

Den einen Passanten fährt er an, „weil ihm beim Gehen die Arme weit“ ausschwingen, „den folgenden, weil dessen Arme dabei stockstarr am Körper“ bleiben. Selbst die trällernde Amsel im Baumwipfel herrscht er an: „Maul halten!“ Als selbsternannter „König der landesweiten Dämonenschaft“ pilgern die Menschen bald zu ihm und bewundern ihn, wie er der „übrigen Bevölkerung als Spiegel“ dient. Die Schwester hat schon Angst, er könne in seiner Verzweiflung sich was antun.

Dann aber erfolgt die Besserung. Er betritt das andere Land, das ihm vorkommt wie eine Erlösung mit seinen namenlosen Vögeln und namenlosen Blumen. Die Namenlosigkeit ist ihm eine Erleichterung. „Da war er endlich, der Gute Zuschauer, wie er mir all die Zeit meines Wahns so notgetan hatte.“

Unter seinesgleichen findet der Erzähler die Erfüllung. „Eine kleine Gesellschaft waren wir, fremd einer dem anderen, und doch, auf eine Weise die Fremdheit still bewahrend, eines Sinnes.“ Beim Lesen muss man an „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturmes“ (1972) denken, jenes Buch, in dem Peter Handke über die realistische Literatur wetterte und sich zur selbstgenügsamen Fabel bekannte. Und eine Fabel ist auch sein neues Buch. Jetzt im Alter erkennt er, dass die Flucht aus dieser Welt eine Sache ist, die alten Dämonen aber ihr Recht einfordern. Denn was wäre die Gesellschaft ohne Widerstand? Was der Mensch ohne Trotz? Entspringt aus ihm nicht erst die Kreativität, die es braucht, um „Luftschlösser“ zu bauen? Wenn der Erzähler in den Spiegel schaut, erkennt er noch heute die zwei, drei roten Haare seiner Jugend, die Stacheln gleichen. Sie sind „Rot wie am ersten Tag, ein Rot mit einem Stich ins Hornissengelb“. Debütierte Peter Handke nicht mit einem Roman, der „Die Hornissen“ (1966) hieß?

Handkes Buch ist nicht mehr und nicht weniger als die Auseinandersetzung mit seinem Werk. Die Selbstvergewisserung eines inzwischen 78-jährigen Schriftstellers, bei dem „Immer noch Sturm“ herrscht, um den Titel seines 2010 erschienenen Opus Magnum zu bemühen. Ob die Streitigkeiten nach dem Nobelpreis ihn zu diesem Buch motiviert haben? Ist das seine Art sich zu erklären? Mit den Mitteln Homers und Cervantes‘? Wer wissen will, warum er mitunter ein solcher Starrkopf sein kann, der findet die Antwort in diesem Text, mit dem Peter Handke seine ganz persönliche „Ästhetik des Widerstands“ geschrieben hat.

Info Peter Handke: „Mein Tag im anderen Land“. Suhrkamp, 93 Seiten

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