Frankfurt / Paris Ehre für einen Weltbeobachter am Rande

Frankfurt / Paris · Der 69-jährige Franzose Patrick Modiano hat den Literaturnobelpreis bekommen. In seiner Heimat ist er längst berühmt; in Deutschland muss der sprachsensible Schriftsteller erst noch entdeckt werden.

Dass sich unter den mehr als 100 000 Büchern auf der Frankfurter Buchmesse kein einziges des neuen Literaturnobelpreisträgers findet, lässt drei Rückschlüsse auf das Stockholmer Votum zu: Es ist falsch, eine Überraschung oder ein Glücksfall. Selbst die englischen Buchmacher hatte man damit düpiert, die zuletzt mit hohen Trefferquoten glänzten, diesmal aber den Lorbeer-Bekränzten nur unter ferner liefen führten.

Auch durch dieses Spekulations-Brimborium muss man erst hindurch, um zu Patrick Modiano zu gelangen, dessen großen Themen das Schicksal der französischen Nation und die französische Hauptstadt als Resonanzboden seiner eigenen Existenz sind. So ist sein Leben als junger Mann das eines Spaziergängers gewesen. Alle Ecken von Paris hat er sich erwandert und auf diese Weise einverleibt. Bis die Stadt Teil seines Gedächtnisses wurde und bei Bedarf nur noch abgerufen werden muss. Wer sich Paris erläuft, durchwandert auch das Werk Modianos.

Dennoch wäre es grundfalsch zu glauben, dass mit seiner Wahl der Literaturnobelpreis in diesem Jahr französisch geworden ist. Die Geschichte seines Landes - insbesondere die im Debüt "Place de l'Étoile" beschriebene Zeit der deutschen Besatzung - zählt nicht zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Weil er, wie jeder große Autor, mehr ist als nur der wortgewandte Chronist einer Zeit. Hinter all den düsteren Erinnerungen, die der heute 69-jährige Modiano zum Teil nicht einmal selbst erlebt hat, steht das Motiv der Spurensuche. Das klingt so allgemein, wie es vom Autor gedacht wird. Es geht ihm nicht weniger als um die Suche nach einer Identität, die zwar zu keinem Ende führen wird, die aber mit jedem neuen Sprachversuch eine neue Gestalt annimmt. Das Schreiben dient Patrick Modiano vor allem als Vergewisserung einer fortwährend ungewissen Welt. Das sind Rekonstruktionen, die das Konstruierte nicht verheimlichen.

Immer bleibt seine Literatur die Selbstbefragung seiner Existenz, insbesondere die Jahre seiner Kindheit und Jugend. Das waren zu einem großen Teil beschwerte Jahre, oft ohne Halt und manchmal ohne Obhut. Die Mutter war Flämin, 1918 geboren, mit künstlerischen Ambitionen. Ein Revuegirl, das es bis zur Theater- und dann zur Filmschauspielerin brachte, mit mäßigem Erfolg. Der Vater, ein Jude mit italienischer Herkunft, machte mal dies und mal das und eigentlich nichts richtig. In diesem unsteten Leben wurde das 1945 geborene Kind zur Last. Meist schoben es die Eltern in irgendwelche Internate ab.

Modiano hat darüber in seinem Roman "Die Gasse der dunklen Läden" Auskunft gegeben und noch detaillierter in der Autobiografie seiner Kindheit, "Ein Stammbaum", von 2005. Literarisch ist das ein Experiment, durchgehend geschrieben aus der Sicht des Heranwachsenden. Modiano hat aus seinen Erfahrungen Literatur entstehen und erblühen lassen. Wie der kleine Junge die Wohnung seines Vaters aufsucht, weil dieser der verarmten Mutter die Alimente nicht mehr zahlt. Und wie der Vater den aufdringlich werdenden Sohn von einer grünen Minna abholen lässt. Mit großem Erstaunen schaut da der Sohn auf seinen Vater, der doch als Jude von den deutschen Besatzern in einer grünen Minna abgeholt worden war. In dieser Erinnerungsbewegung pflanzt sich das Unheil der Geschichte in die Gegenwart einer Familie fort.

Patrick Modiano hat viele Geschichten gar nicht selbst erlebt. Doch in der Erinnerung hat er die Geschehnisse für sich begreifbar gemacht und ihnen auf gespenstische Weise eine Gestalt gegeben. In seinem Debüt "Place de l'Étoile" verschmilzt er mit seinem ungeliebten Vater. Er erklärt ihm nicht die ewige Feindschaft, sondern schreibt aus seiner Sicht. Und schließlich gibt er ihm im Buch den Namen Raphael Schlemilovitch. Das ist natürlich ein Kunstname, hinter dem der Schlemihl auftaucht. Im Jüdischen heißt das Schlamassel, doch in der Literatur denkt man eher an Peter Schlemihl, jene tragische Figur aus der Märchengeschichte des Adelbert von Chamisso (1781-1838), die ihren Schatten verkaufte und sich so der Vergangenheit entledigte und zur permanenten Gegenwart verdammt ist. Darin spiegelt sich eine Auseinandersetzung mit dem Vater, die in Vielschichtigkeit weit über den Vaterhass hinausreicht.

Der Nobelpreis geht an einen Stillen der Branche, dem nachgesagt wird, mit seinen 1,93 Metern schlaksig und wortkarg zu sein. Ein Weltbeobachter vom Rande her. Da verwundert es nicht, dass Peter Handke, der Modiano einst für Deutschland entdeckte und ihn auch übersetzte, zu seinen Freunden zählt.

Ein großer Autor, keine Frage. Und wer darüber murrt, seinen Namen noch nicht gehört zu haben, sollte sich darüber freuen, jetzt eine Entdeckung machen zu können

(RP)
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