Düsseldorf Paris in Zeiten der Staatsaffäre

Düsseldorf · "Gräser der Nacht" heißt der neue Roman von Patrick Modiano.

An einem großen ersten Satz kann man noch keinen großen Autor erkennen. Aber manchmal erkennt man große Autoren an ihrem ersten Satz - wie diesem: "Aber ich habe doch nicht geträumt." So beginnt Patrick Modiano, der gestern mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, seinen neuen Roman "Gräser der Nacht". Wer über die sechs ersten Worte aber hinwegliest, hat die Einstimmung in eines der schönsten Prosawerke dieses Jahres schon verpasst.

Denn so scheinbar absichtslos der erste Satz daherkommt, so scheinbar absichtslos wird später auch der Erzähler erinnernd durch Paris flanieren. Überhaupt dieser Ich-Erzähler, auf den der Leser sich ja verlassen muss! Der beginnt seine Geschichte zweifelnd und muss Träume beiseite wischen. Kurzum: Auf den, der uns die Geschichte gleich erzählen wird, können wir uns nicht verlassen. Und das aus Prinzip: Denn das meiste, woran sich Jean zu erinnern versucht, bleibt lückenhaft. Ein Notizheft hilft allenfalls fürs Gröbste; doch am Ende halten wir in den Händen eine Geschichte mit einigen Leerstellen und zugleich ein grandioses Buch.

Es ist schwer zu sagen, welche Geschichte der 69-jährige Franzose uns in seinem poetischen, manchmal an Handke erinnernden Ton erzählt. Eine Lebensgeschichte zwischen Jean und der geheimnisvollen Dannie, die nach nur drei Monaten spurlos wieder verschwindet? Vielleicht nur das Porträt der Stadt Paris mit ihren Kinos, Cafés und Antiquariaten? Ohnehin hat der erfahren Modian-Leser immer auch einen Stadtplan zur Hand. Oder ist es doch ein Politthriller?

Denn was wir in einem dieser kleinen Nebensätze auch erfahren, ist, dass Dannie "in eine üble Geschichte verwickelt" sein soll. Plötzlich gewinnt dieses so beschauliche und melancholisch genügsame Buch auch an gesellschaftlicher Brisanz. Weil der Roman im Jahre 1965 spielt und in diesem Jahr Frankreich in eine Staatsaffäre verwickelt wird: Damals wurde der marokkanische Exilpolitiker Ben Barka in Paris entführt und ermordet. Dass Dannie etwas damit zu tun haben könnte, wird immer wahrscheinlicher. Unwahrscheinlich aber bleibt, dass Jean jemals Gewissheit erlangen wird.

Wo finden sich ein halbes Jahrhundert später noch Orientierungspunkte? Vielleicht in einem älteren Buch wie in "Ein Stammbaum", in dem Modiano autobiografisch genau diese Zeit beschreibt. Das ist keine Schnitzeljagd, sondern eine wunderbare Einladung, in das einzigartige Werk mit seiner stillgestellten Welt einzutauchen.

Es müsste mit dem Teufel zugehen, würde dieses poetische Werk weit vorn auf den Bestsellerlisten landen. Aber selbst das traut man am Emde auch diesem Roman zu.

(RP)
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