Wo Schauspiel-Fans glücklich werden Packendes Theater in der Region

Düsseldorf · Sandra Hüller als erschöpfter Hamlet in Bochum, eine gespenstische Familienhölle in Köln, Juli Zehs Roman „Neujahr“ in Bielefeld – diese Inszenierungen sind eine Reise wert.

 Sandra Hüller als Hamlet im Schauspielhaus Bochum.

Sandra Hüller als Hamlet im Schauspielhaus Bochum.

Foto: JU Bochum

Um seine Theaterlandschaft und das vielfältige Angebot wird Deutschland beneidet. Wohin lohnt die Fahrt? Hier Empfehlungen für sehenswerte Inszenierungen:

Schauspiel Köln: „Eines langen Tages Reise in die Nacht

Mutter drogenabhängig, die Söhne alkoholkrank, Edmund leidet an Lungenkrebs – und Vater ist zu geizig, um die drei vernünftig behandeln zu lassen. Man demütigt einander und versichert sich gleichzeitig der gegenseitigen Liebe. Die Familie befindet sich in einem Teufelskreis aus Lügen, Schuld, Depressionen und pathologischen Verdrängungsmechanismen. Da bauen sich Hass, Zynismus und Vereinsamung auf. Regisseur Luk Perceval findet für die monströse Verharrung in einer gespenstischen Familienhölle ein schlagendes Bild: Er steckt Eugene O’Neills Figuren in fünf frontal zum Publikum angeordnete, mit kaltem Licht ausgeleuchtete Boxen, aus denen die grandiosen Schauspieler ohne Blickkontakt miteinander kommunizieren. Leise spricht das Dienstmädchen die Regieanweisungen, denen die Figuren jedoch nicht folgen. So wird die Unfähigkeit zur Veränderung ausgestellt. Am Schluss kriecht und rutscht Mary verzweifelt durch den Wassergraben. Nebel. Pianomusik. Alle schauen zu. Ungeheuer ist der Mensch, und Hilfe ist nirgends.

Theater Bielefeld: „Neujahr“

Neujahr auf Lanzarote. Henning strampelt auf dem Rad hinauf nach Femés – und kämpft nicht nur gegen den Wind und die Steigung, sondern auch gegen seine Panikattacken. Hoch über Femés hat er ein Déjà vu: Er stößt auf den jahrzehntelang verdrängten Grund seiner Traumatisierung. In einer langen Rückblende wird eine Geschichte von Angst und Abhängigkeit, Vertrauen und Verlassenheit, kindlichem Verantwortungsbewusstsein und grenzenloser Überforderung erzählt – aus Kinderperspektive. Mit Masken und einfachen visuellen Tricks verwandeln sich die Schauspieler in Kinder. Die Illusion gelingt perfekt; Dariusch Yadzkhastis anfangs komödiantisch-ironische Inszenierung wird nun beklemmend. Konrad Kästners Videos verleihen ihr eine alptraumhafte Atmosphäre. Die Umsetzung von Juli Zehs Roman überzeugt am Theater Bielefeld mit ihrem perfekten Zusammenspiel aus Schauspiel, Rezitation, Video und Musik.

Schauspiel Frankfurt: „Brand“

Der Düsseldorfer Hausregisseur Roger Vontobel inszeniert Ibsens selten gespieltes Drama eines weltabgewandten evangelikalen Fundamentalisten. In den Fjord, in dem er das Amt des Pfarrers ausübt, kommt niemals Sonne. Mit seinem „Alles oder Nichts“ führt er seine Gemeinde in Hunger und Leid; seine Familie martert er mit unerbittlicher Prinzipientreue. „Der starke Wille steht auf Ihrer Habenseite. Ihre Nächstenliebe ist ein leeres Blatt“, diagnostiziert der Doktor treffend. Doch Vontobel macht es uns nicht leicht mit der Verurteilung von Brand. Auch seine Gegenspieler sind nichts als Opportunisten und Optimierer ihrer eigenen Karriere. Vontobel fragt nach den Kosten von Autonomie und Selbstbestimmung, nach der Notwendigkeit von Kompromissen und der Balance zwischen Anpassung und Standfestigkeit. Brand, zwischen dem Engel Agnes und dem Teufel Gerd hin- und hergerissen, wird sich in strenger Gottesfurcht immer wieder für den Teufel entscheiden. Toller Soundtrack, sensible Schauspielerführung.

Schauspielhaus Bochum: „Hamlet“

Christian Friedel gibt in Roger Vontobels Düsseldorfer „Hamlet“-Inszenierung einen extrovertierten, narzisstischen Hamlet. Das Gegenteil verkörpert Sandra Hüller in der Inszenierung von Johan Simons in Bochum: Ihr Dänenprinz ist nachdenklich, introvertiert, depressiv. Ist tastend, stets auf der Suche – nicht nur nach der Wahrheit über den Tod des Vaters, sondern auch nach dem eigenen Ich. Die Aufführung spielt auf weißer Eisbahn, beschienen von einer eiskalten Sonne – oder ist das Lars von Triers Planet Melancholia? Simons‘ elegante, konzentrierte, psychologisch genaue Inszenierung wird gegen Ende zu einer einzigen Trauerfeier – einer Feier der Trauer. Von der Kritik zur Inszenierung des Jahres 2019 in NRW gewählt; Hüller erhält für ihre Rolle den Eysoldt-Ring der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste.

Rottstr5 Theater Bochum: „Maria Stuart“

Zwei Alpha-Frauen auf Konfliktkurs: Im coolsten Off-Theater in NRW reduziert die junge Regisseurin Ariane Kareev Schillers Drama auf ein Duell zwischen zwei starken Frauen mit diametral entgegengesetzten Charakteren. Elisabeth, kühl, rational, in hochgeschlossenem Kostüm, das trotz seiner Eleganz wie ein Panzer wirkt, trifft auf eine gefühlsbetonte, in rückenfreiem Oberteil und hautenger roter Hose geradezu erotisch daherkommende Maria. Beide drücken mit ihrer Körperhaltung und Mimik Stolz und Machtbewusstsein aus. Doch anders als bei Elisabeth ist Marias Eleganz nicht die Eleganz der Kleider, sondern die des Körpers und der Bewegungen. Den Schillerschen Versen hat Kareev eine Passage aus Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ sowie ein paar Zeilen aus William Ernest Henleys „Invictus“ untergejubelt, was die Tragik der beiden kompromisslosen, aber unglücklichen Frauen unterstreicht. Die Aufführung besticht mit einem klaren intellektuellen Konzept und zollt beiden Frauenfiguren gleichermaßen Respekt.

Theater an der Ruhr Mülheim: „Der Untergang der Titanic“

Die Wiederentdeckung eines großartigen literarischen Texts, ein geniales Raumkonzept, ein ausgezeichneter Soundtrack und tolle Kostüme: Regisseur Philipp Preuss hat die 33 Gesänge von Hans Magnus Enzensbergers politisch-philosophischem Langgedicht ungekürzt inszeniert und minimal mit aktuellen Bezügen angereichert. Die Aufführung zeigt die Aktualität von Enzensbergers Text deutlicher auf, als sie beim Wiederlesen nach 40 Jahren ohnehin schon auffällt: An der Schere zwischen Arm und Reich und dem Verschließen der Augen vor sich abzeichnenden Katastrophen hat sich nichts geändert. Ein Stoß erschüttert die Theatertribüne, doch die Schiffsmotoren wummern weiter. Die Passagiere auf dem Schiff und die Besucher im Theater wollen nicht wahrhaben, dass der Untergang naht – im Jahre 1912 so wenig wie im Jahre 2020.

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