Konzert in der Tonhalle Die Chefin

Düsseldorf · Oksana Lyniv ist eine großartige Dirigentin. Jetzt tritt sie in Düsseldorf auf.

Foto: © Tonhalle Düsseldorf / Susanne Diesner Fotografie

Das Grundgesetz des Musikjournalismus hat sich in einem entscheidenden Absatz geändert. Er lautet neuerdings: Dirigentinnen sollten nicht mehr gefragt werden, wie es ist, als Frau vor einem Orchester zu stehen.

Es gibt nämlich weltweit mittlerweile sehr viele, die es ans Pult eines Orchesters geschafft haben. Zwar bleibt der Beruf des Chefdirigenten vorerst eine Männerbastion, aber die Reserven und Irritationen bei Musikern und Publikum sind geschwunden. Und seit im Jahr 2016 das ruhmreiche City of Birmingham Symphony Orchestra die 29-jährige Litauerin Mirga Gražinyte-Tyla zur neuen Chefin kürte, war das Thema endgültig ad acta gelegt.

Höchstens darf man fragen: Dirigieren Frauen anders als Männer? Legen sie etwa Wert auf besonders viel Gefühl, oder pflegen sie im Gegenzug – als kompensatorisches Zeichen von Stärke – besonders militärische Signale? Auch diese Frage wirkt deplaziert, wenn man jetzt in einer Probe in der Tonhalle miterlebt, wie die 41-jährige ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv die Düsseldorfer Symphoniker fürs nächste „Sternzeichen“-Symphoniekonzert am Wochenende zwirbelt. Sie legt nämlich vor allem Wert auf Musik und deren integrale Beredsamkeit.

Sie alle bieten ja nicht irgendein Stück als Hauptwerk des Abends, sondern ausgerechnet Béla Bartóks Konzert für Orchester, eine der virtuosesten, expressivsten und vielschichtigsten Kompositionen der Orchesterliteratur. Da gibt es Stellen von gleißender Brillanz (im Finale), von schmeichelnder Delikatesse (im „Spiel der Paare“), von sardonischer Ironie (im „Intermezzo interrotto“) und von herzerwärmender Innigkeit (Kopfsatz). Lyniv hat hierfür zwei Köpfe: Einer steckt in der Partitur und checkt alle spontanen Spiel-Offerten der Musiker gegen; der andere ist den Musikern zugewandt. Und schon nach wenigen Minuten ist klar: Sie beherrscht das Stück bis in die Fasern und gibt dieses Wissen mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Disziplintreue ans Orchester weiter.

Lyniv verdiente sich ihre ersten Sporen an der Lemberger Oper, dorthin verpflichtete sie der Chef als Assistentin schon während ihres Studiums. Als sie 2004 erstmals ins Ausland reiste und am Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb in Bamberg teilnahm, gewann sie aus dem Stand den dritten Preis – und beeindruckte den dortigen Chefdirigenten Jonathan Nott so sehr, dass er sie ebenfalls zur Assistentin machte. Sie war eine, die im Schlagschatten der Chefs gründlich aufräumte und Stücke polierte. Aber Oksana Lyniv kann viel mehr als nur besenrein, sie hat nämlich sehr genaue Vorstellungen von Klängen, Strukturen und Prozessen.

Das musste auch das Orchester der Bayerischen Staatsoper in München erleben, das in Kirill Petrenko einen der spektakulären Scharfhörer der Branche zum Chef hat. Auch er ist Lyniv-Fan und engagierte sie als Assistentin, aber bereits mit eigenen Dirigierverpflichtungen. Die Musiker merkten bald, dass Lyniv, wenn’s drauf ankommt, ebenso wenig Gnade wie Petrenko kennt, sobald es um die Realisierung einer Partitur geht.

Gnade ist vielleicht das falsche Wort, denn ungnädig ist Lyniv überhaupt nicht. Aber sie kann sich eine Stelle sehr genau vornehmen, kann die Intonation justieren, kann den Posaunen sagen, dass sie sich ein Glissando noch aggressiver, kerniger wünscht. Doch tut sie es ohne Verbissenheit. Sie straft niemanden ab, wenn er mal zu früh einsetzt. Eher lacht sie. Aber sie wiederholt die Stelle dann eben noch zwei, drei Mal, bis sie sitzt. Ihr rechter Arm markiert dabei mit Stöckchen den Takt, ihr linker agiert völlig frei, gibt Einsätze, modelliert Linien, warnt vor zu lauten Tönen. Das wirkt als Arbeitsmodus immer lebhaft, immer resolut, immer punktgenau. In der Aufführung wird sie dieses erhöhte Aktivitätspotenzial wahrscheinlich reduzieren.

Dabei kommt der Musikerin, die seit 2017 Chefdirigentin in Graz ist, ihr mittlerweile vorbildliches Deutsch zu Hilfe. Sie muss nicht mit den Armen rudern und nicht mit gebrochenem Englisch hantieren – zu einem Takt im Bartók-Finalsatz holt sie verbal weit aus, um ihre Ideen klarzumachen. „Hier, das klingt genau wie die Wald-Stelle in Bartóks Ballett ,Der holzgeschnitzte Prinz‘. Hören Sie die Bäume in den Noten, wie sie sich biegen?“ Kaum erklärt, klingt die Stelle drei Mal so schön. Man muss als Dirigent/in nicht immer fuchteln. Und wenn es dann toll ist, lobt sie auch: „Super!“

Frauen an die Macht – das haben wir allein in Deutschland schon einige Male erlebt. Sylvia Caduff und Romely Pfund in Solingen/Remscheid, Simone Young in Hamburg, Karen Kamensek in Hannover, Joana Mallwitz in Nürnberg, Alicja Mounk in Ulm, Julia Jones in Wuppertal – um nur einige zu nennen. Dass das Thema durch ist, sieht man im Internet. Dort gibt es die Seite dirigentinnen.de – die ist total veraltet. Herr oder Frau Webmaster kam offenbar mit dem Aktualisieren einfach nicht mehr nach.

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