„New Now“-Festival Erst klettern, dann Kunst gucken
Essen · Bizarre Formen und Farben: Auf Zeche Zollverein in Essen sind Kunstwerke zu erleben, die man begehen kann. Mehr noch: Das Publikum wird Teil der Arbeiten.
Um Haha Wangs Installation „Would you would you would you•••••••“ in allen Aspekten zu erkunden, empfiehlt sich ein Mindestmaß an sportlicher Fitness. Der Grund: Die chinesische Künstlerin hat für das „New Now“-Festival, das bis August im Unesco-Welterbe Zeche Zollverein in Essen präsentiert wird, eine Arbeit entworfen, die begehbar ist – um das Mindeste zu sagen. Will der Besucher Teil der Inszenierung werden, muss er sich eine Kletterwand hinaufhangeln; zur Belohnung erscheint er in Echtzeit als Baumbesteiger auf einem filmischen Display.
Mit ihrem „New Now“-Beitrag bezieht sich die in Deutschland lebende Chinesin einerseits auf Italo Calvinos Roman „Der Baron auf den Bäumen“, andererseits auf jene Klima-Aktivisten, die im Hambacher Forst Bäume besetzten, um gegen den Braunkohle-Tagebau zu protestieren. Haha Wangs technisch raffinierte Kletterpartie ist ein gutes Beispiel für jene Art von Kunst, die das Publikum in der Mischanlage der Kokerei auf Zeche Zollverein erwartet. Einst wurde in dem einschüchternd monumentalen, bunkerartigen Gebäude, das Fritz Schupp 1958 errichtete, aus Kohle der Brennstoff Koks erzeugt. Heute fördern Kreative hier künstlerische Ideen zutage.
Mit der herkömmlichen Art der Kunstrezeption, bei der ein Betrachter ehrfürchtig, regungslos und in gebührendem Abstand vor dem Werk verharrt, haben diese Ideen nichts mehr zu tun. In der schönen neuen Kunstwelt geht es um eine virtuelle Realität, in die der Betrachter eintaucht, die er womöglich nach seinen Vorstellungen ummodelliert. Immersion lautet das Schlagwort, das zuerst im Zusammenhang mit Computerspielen aufkam. Inzwischen erobern immersive Inszenierungen zunehmend den Ausstellungsbetrieb der Kunstinstitutionen.
Die „New Now“-Kuratorin Jasmin Grimm hat die zweite Ausgabe ihres Festivals unter das Motto „Hypernatural Forces“ gestellt. Sieben „Residenzkünstler“ wurden nach Essen eingeladen, um ihre Werke vor Ort zu produzieren. Mit von der Partie sind Daniel Franke, das Studio AATB (Andrea Anner und Thibault Brevet), Eva Papamargariti, Sabrina Ratté, Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten, Haha Wang und Pınar Yoldaş. Natur und Technik sind bei ihnen keine Gegensätze, sie gehen vielmehr Hand in Hand. Erreicht wird dies durch Künstliche Intelligenz (KI), smarte Algorithmen und raffinierte Robotik.
Im „New Now“-Labor für Digitalkunst sind Arbeiten entstanden, die einen durch bizarre Formen und Farbenpracht, durch surreale Szenen und suggestiven Sound in den Bann schlagen. So wie Daniel Frankes Video-Installation „Gran Chimera“. Der KI-Experte, derzeit Doktorand an der Bauhaus-Universität Weimar, hat Algorithmen programmiert, die berückende Bildwelten herbeizaubern. Ähnlich attraktiv Sabrina Rattés Arbeit „Inflorescences“: Scans von Elektroschrott aus dem Ruhrgebiet machte die kanadische Künstlerin zum Ausgangspunkt ihrer Videos und Skulpturen. Doch geht der Technikmüll mit vegetativen Fantasiegebilden eine harmonische Synthese ein.
Kunst als angewandte Botanik, wie man sie nie zuvor erlebt hat, damit überrascht und überwältigt das Duo Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten auf mehreren Ebenen der Mischanlage. Bei ihrer Arbeit „Neophyte – an industrial opera of plants and pioneers” spielen sogenannte Pionierpflanzen die erste Geige. Im Gepäck von Rohstoffen aus aller Welt wanderten die Samen dieser Pflanzen einst in Essen ein und eroberten das Zollverein-Areal – die vegetative Besiedelung bringen Stolzer und Rütten in Verbindung mit der Migration von Menschen. Coup der Multimedia-Oper: Die exotischen Arien wurden nicht nur von KI komponiert; die Software besorgte gleich auch noch den Gesang.
Schlechte Zeiten für Operndiven und Heldentenöre.
Info Das „New Now“-Festival ist eine Biennale für zukunftsorientierte Kunst, die von der Stiftung Zollverein in Essen ausgerichtet wird. Die aktuelle Ausgabe – Motto: „Hypernatural Forces“ – läuft noch bis zum 6. August 2023. Schauplatz der zentralen Ausstellung ist die Mischanlage der Kokerei. Im Düsseldorfer Studio der Firma LAVAlabs steht am 24. Juni die Premiere des Stücks „You better don’t know“ auf dem Programm. Bei der Mixed-Reality-Inszenierung handelt es sich um ein Projekt des Künstlerinnen-Kollektivs „Ruhrgebieterinnen“ und des „Mirevi“-Labors. //newnow-festival.com/