Neun Stunden "Faust" in Salzburg

Mammuttheater bei den Salzburger Festspielen: Nicolas Stemann inszenierte "Faust I" und "Faust II" an einem Abend auf der Perner-Insel in Hallein. Das Publikum erlebte einen Versuch über Goethes berühmte Texte, bei dem es allerdings zu Abschweifungen und Verirrungen kam.

Salzburg Als es gegen 1.13 Uhr wahrlich tiefe Nacht in "Faust II" und in Salzburg ist, wissen wir, dass das Ende bevorsteht. Seit mehr als acht Stunden sitzen wir hier, übernächtigt von der Reise über zahllose Textkilometer, vom Brausen eines Weltgedichts, dessen beide autonome Teile – "Faust I" und "Faust II" – an einem Abend geboten werden. Seit acht Stunden befinden wir uns auch auf der Suche nach Faust, nach Mephisto, nach Gretchen und all den anderen.

Mit dieser Suche sind wir nicht allein. Nicolas Stemann, der Regisseur, sucht mit uns, denn er ist ratlos. Wer soll wen spielen? Offenbar möchte er niemanden in seinem Team verärgern, deshalb darf mal dieser, mal jener die schönen Partien spielen. Sebastian Rudolph ist der erste und auch der letzte Doktor Faust an diesem Abend, ganz allein bestreitet er den Beginn und spricht in einem Lese-Monolog alle Rollen, die ihm vor Augen kommen. Es soll Leute geben, die von einem solchen Theaterabend Dialoge erwarten, aber die sind hier im falschen Dom. Wir erleben eine szenische Version des "Who is who?".

Die Perner-Insel in Hallein ist die Außenstelle der Salzburger Festspiele für Experimentaltheater. Auch dieser Abend ist ein einziges Labor, eine Textlernwerkstatt, er könnte heißen: "Versuch über Faust". Solche Versuche hat man schon etliche Male gesehen, doch ist es immer wieder drollig zu erleben, wie Regisseure sich dem großen Goethe unterwerfen und ihm zugleich zu entkommen suchen. Rudolph ist während seines Rezitations-Marathons sehr beschäftigt, weil er alles allein machen muss – das Schreibpult schieben, die Elektronenorgel heranrollen, die Tür seines gotischen Schreibzimmers mit Fetzen eines Reclam-Heftchens vollkleistern, Äxte, Schwerter, Benzinkanister ausbreiten. Und wenn er nicht mehr weiterweiß, rennt er gegen eine Wand und keucht, als habe er Bronchitis.

Andere Schauspieler übernehmen, fallen zuweilen in Dialekte, was uns angesichts der Frau Marthe und ihres rheinisch gesabberten Satzes "Ja, isch binnet" fast ein wenig rührt, und in Auerbachs Keller gibt es auch eine Discokugel. Meistens ist die Musik aber sehr leise, ein Pianist spielt Töne so fein wie ein Mobile, die sich selten verändern, das ist Theaterkonfekt und Stimmungszauber, bevor die Materialschlacht beginnt.

Das Verhaltene ist Stemanns Sache nicht so, lieber klotzt er, lässt Wände von Malern bearbeiten, auf anderen Wänden Germanistik-Professoren Tiefsinniges über Faust referieren; Puppen spielen Muppet-Show und räsonnieren mit Helge-Schneider-Stimmchen über den Homunculus, eine Sopranistin heult Schubert, ein anderer Herr singt "Morning Has Broken", Videos klagen den Kapitalismus an, zwischendurch wird Hochprozentiges in Becherchen verteilt – und irgendwann sieht die Bühne aus wie Sau.

Wenn beide Werke – "Faust I" und "Faust II" – an einem Abend auf solchem Abstraktionsniveau geboten werden, stellt sich die Frage nach den niederen Bedürfnissen des Publikums, wenn schon die geistigen nicht bedient werden. Nun, es gibt Frankfurter Würstel mit Brezel, Kartoffelsalat, Weinschorle oder Sekt; mancher hat sich im nahen Supermarkt Lebkuchen, Chips und ein stilles Mineralwasser mitgebracht. Schon die sehnsüchtig erwartete erste Pause wird allerdings gestrichen. Stemann möchte, dass wir es schnell hinter uns bringen und "Faust I" in zweidreiviertel Stunden erleben, was für jeden im Saale ein gewaltiges Pensum ist und manchem in den engen Sitzreihen das Blut bedenklich in die Beine rutschen lässt. Ein erhöhtes Thrombose-Risiko gehört zu einem progressiven Theaterabend offenbar dazu.

Stemann möchte nicht in den Verdacht geraten, seine Demontage des Theaters vergreife sich auch an Goethes Text. Nein, dieser Text ist Stemann trotz gewaltigster Kürzungen und Umstellungen heilig, mitunter wird er beinahe gebetet, was uns umso mehr betrübt, denn man hört viele Verse, aber sieht keinen "Faust", sondern, wie gesagt, eine "Faust"-Paraphrase. Gewiss hat es einen gewissen Reiz, wenn das Gretchen der Patrycia Ziolkowska mit Sebastian Rudolph und Philipp Holzmair einen erotischen Dreier beginnt, denn jeder der beiden ist Faust und zugleich Mephisto, und ein Faust ist an diesem Abend sowieso nicht genug. Großen Eindruck machen die Puppen der Gruppe Helmi, verknautschte Gummi-Köpfe, die von mini bis riesengroß alle Bedürfnisse nach Unterhaltung befriedigen, eine Puppe stellt sogar Max Reinhardt dar – alle im Publikum lachen, wenn der Name des seligen einheimischen Altmeisters des Schauspiels fällt.

In der großen Pause lichten sich die Reihen, aber man hört niemanden schimpfen – wer geht, fühlt sich Stemanns Anspruch nicht gewachsen und kehrt vielleicht nie mehr zurück, vermutlich kommt er noch rechtzeitig zum abendlichen Fernsehprogramm, bei dem er weiß, was er kriegt. Doch auch Leute, denen im Schauspiel schöpferische Verunsicherung willkommen ist, gucken hier ein wenig unfroh, denn auch das schönste Dekonstruktionstheater inklusive Salzburger Puppenkiste ist nur so gut, wie seine Schauspieler es sind.

Hier haben wir es mit einer Deputation des Thalia-Theaters zu tun, die aus schönen Begabungen besteht, aber Begabung reicht für die glückliche Erstürmung der beiden ungleichen Zwillingstürme "Faust I" und "Faust II" nicht aus. Wenn die Sprecher nicht weiterwissen, holt sich Sebastian Rudolph ein Megafon, das Verstärkungsinstrument stimmschwacher Mimen, oder Stemann schaltet gleich die Musik zu; auch der Regisseur selbst singt ein paar Weisen mit engem Tenor und Pop-Vibrato. Ein anderer säuselt "O Sole Mio" mit einem Text, der irgendwie deutsch klingt, aber man weiß es nicht.

Über der Bühne zeigt uns übrigens ein digitales Display, wo wir uns im "Faust" befinden. Oft steht dort "Tiefe Nacht". Das trifft es immer haargenau.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort