Napoleon – Erlöser oder Ungeheuer?

Eine faszinierende Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle präsentiert jetzt mit 400 Exponaten aus aller Welt Napoleon Bonaparte als Kaiser und Kriegsherrn. Und sie fragt: War der Franzose der Traum oder das Trauma eines neuen Europas?

Eine grimmige Begrüßung ist das: Direkt am Eingang wartet diese monströse Sechspfünder-Kanone von 1803. Und die zielt nicht auf ein imaginäres Schlachtfeld, sondern geradewegs auf den Besucher. Auch auf uns also scheint die neue Schau in der Bonner Bundeskunsthalle zu zielen – auf uns Europäer des 21. Jahrhunderts –, die jetzt den vielleicht ersten modernen Europäer ausstellt: Napoleon, den Revolutionär und Kaiser, Erlöser und rasenden Kriegsherrn, den Hoffnungsträger und das Ungeheuer.

Gleich hinter der Kanone ist er auch schon zu sehen, mit wallendem Umhang auf einem sich aufbäumenden Pferd: In "Bonaparte überquert den Großen St. Bernhard" von Engelbert Willmes (1786–1866) ist alles Sturm und Drang und brausendes Heldentum. An der Wand vis à vis, aber doch gut 30 Meter entfernt, ist das zweite von vier Reiterbildnissen zu sehen, die zu Lebzeiten des Korsen (1769–1821) entstanden sind. Und dieses Bild ist echte Sensation, wiederentdeckt in einem Depot in Dessau nach dem Mauerfall und jetzt erstmals als Leihgabe zu sehen: die Darstellung des Kaisers von den beiden deutschen Malern Heinrich und Ferdinand Olivier. Und es ist, als reite da ein Votivbild, mit den starren, unwirklichen Gesichtszügen an einen Heiligen erinnernd; während der Bildhintergrund unzweifelhaft Altdorfers Monumentalgemälde "Alexanderschlacht" zitiert, das zu dieser Zeit als Kunstbeute im Louvre bewahrt wurde. Alles hier ist Symbol und Ausdruck zeitloser Macht.

Die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg und tiefen Fall Napoleons samt letztem Exil auf St. Helena ist eine Geschichte in Bildern. Und der Franzosenkaiser selbst hat es verstanden, den Kult um seine Person ikonographisch zu befeuern. Dabei war er keinesfalls wählerisch. Am Ende stehen wir vor einem Cocktail unterschiedlicher Insignien: mit den Büsten nach antiker Vorlage, mit seinen Darstellungen in der Tradition von Cäsar, Karl dem Großen, Ludwig XVI. und Friedrich dem Großen; oder auf dem Throne göttergleich wie Jupiter. Als was aber tritt er nach der Schlacht von Essling auf – gemalt von Charles Meynier 1812? Weiß gewandete Schwerverletzte recken sich zu ihm empor, und er, der Triumphator, hält seine Hand über die geschundenen Soldatenhäupter. Keine Frage: Der, der hier einherschreitet, inszeniert sich als Heiland, der Diktator schlüpft in die Rolle des segnenden Jesus.

Dieses Pathos, diese durch und durch ikonographierte Existenz hat düsterste Schattenseiten. Die napoleonische Herrschaft von 1799 bis 1815 – mit desaströsen Niederlagen im Russlandfeldzug und der vernichtenden bei Waterloo – hat schätzungsweise drei Millionen Europäer das Leben gekostet. Heute noch werden Massengräber gefunden, zuletzt bei Vilnius. Nicht weniger bedrückend aber sind die Einzelschicksale. Wie jenes des damals 23-jährigen Francois-Antoine Faveau, dessen fast sieben Kilogramm schwerer Brustpanzer ausgestellt ist. Vor Kugeltreffern vermochte der Kürass aus Stahl gut zu schützen, wie ein paar Dellen beweisen. Aber die ganze rechte Seite des Brustpanzers wurde mit Riesenwucht von einer Kanonenkugel durchschlagen. Mehr als faustgroß ist das Loch in Vorder- und Rückenteil.

Es ist reichlich Blut geflossen unter den Völkern Europas. Und das ausgestellte grobe Amputierwerkzeug der Feldärzte, das ebenso gut zum Inventar einer Metzgerei gehören könnte, gibt von den Qualen der Verwundeten und Sterbenden einen weidlich plastischen Eindruck.

Die Schau erfüllt mit ihren 400 Exponaten – zusammengetragen aus aller Welt – die historische Informationspflicht; ihr Impetus ist zweifelsohne die Aufklärung. Aber die Faszination rührt durch jenen Schauder, der jeden beim Anblick der Originale durchfährt. Es ist diese auratische Kraft der Alltagsgegenstände, mit denen wir auf Tuchfühlung mit der Vergangenheit gehen: mit dem berühmten Dreispitz des Kaisers, dem schlichten Klappstuhl aus Holz und Leder, dem kleinen Klapptisch fürs Feldlager, seinem Klappbett auf Rollen.

Man beginnt zu ahnen, wie fast alles in diesem Leben konsequent der Mobilität und Geschwindigkeit geschuldet war. Napoleon ließ das Verkehrsnetz rasant ausbauen, so dass sich zwischen 1800 und 1815 die Fahrtzeiten im Kaiserreich halbierten. Zudem wurde ein rein militärisches Übermittlungsnetz eingerichtet – mit 1400 Postmeistern und über 16 000 Pferden. Auch das macht die Moderne Napoleons aus. Selbst das Holzklötzchen, mit dem der Feldherr auf seinen Karten die Truppenteile kennzeichnete und verschob, vermittelt in der Bonner Schau noch einen Eindruck von einer Beweglichkeit als Prinzip.

Aber war nun Napoleon der Begründer eines modernen Europas, dessen Kaiserreich zur Zeit seiner größten Ausdehnung 1812 mehr als ein Drittel Europas umfasste mit fast 45 Millionen Menschen? Unter ihm brachen die absoluten Monarchien wie Kartenhäuser zusammen, mit ihm fegte der Geist von Gleichheit und Freiheit durch den alten Kontinent. Oder war die Reaktion auf seine Niederlage nicht eher ein neues Nationalbewusstsein? Es wird von beidem etwas sein; Napoleon bleibt der Traum und das Trauma Europas.

Am Ausgang begegnet man erneut der Kanone. Und man liest staunend, welchen Vorteil sie hatte. Mit ihr konnte man – einmalig zu dieser Zeit – auch die erbeutete Munition der Gegner laden. Eine Art Einheitsgeschütz somit. Und auch dies ist fast ein europäischer Gedanke – obgleich ein furchterregender und zynischer.

(Rheinische Post)
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