Nächstenliebe in der Flüchtlingspolitik Handeln nach dem christlichen Imperativ
Düsseldorf · Das griechische Flüchtlingsdrama appelliert an Europa als Werteunion. Doch wie viel Nächstenliebe ist politisch möglich? Ein Essay.
Die Welt blickt schreckerstarrt auf Moria, die griechische Insel, auf der mehr als 12.000 obdachlose Flüchtlinge auf Hilfe warten. „Da muss etwas geschehen“, denkt man Abend für Abend vor den Fernsehbildern. Doch das ist nur die eine Sicht, die unmittelbar menschliche. Die andere spricht aus den Worten, die Innenminister Seehofer so oder ähnlich schon mehrfach gesprochen hat: „2015 darf und wird sich nicht wiederholen.“
Jüngst allerdings hat sich der Ton gemildert. Mit Bezug auf die 100 bis 150 Jugendlichen, die der Minister nach Deutschland umsiedeln will, sagte er: „Auch dies ist ein ganz konkretes Beispiel praktizierter Nächstenliebe.“
Noch immer ist hierzulande die Ansicht verbreitet, Deutschland wäre in seiner Existenz gefährdet, wenn es noch einmal wie 2015/2016 mehr als eine Million Schutzsuchender ins Land ließe. Zwar geht es nun lediglich um einige Tausend, die in griechischen Lagern hingehalten wurden. Doch viele fürchten, dass wieder neue Flüchtlinge nachdrängen könnten, wenn die bisherigen Bewohner des abgebrannten Lagers in Richtung Deutschland, vielleicht auch nach Frankreich aufbrechen dürfen. „Das Boot ist voll“, heißt es dann. Dabei sind zahlreiche Kommunen bereit, den Männern, Frauen und Kindern von Moria Obdach zu bieten. Da wäre hierzulande Platz für weit mehr als die 100 bis 150 unbegleiteten Kinder, die Seehofer retten möchte. Sein Parteifreund Söder sagte dagegen ohne zahlenmäßige Begrenzung, es sei eine persönliche Christenpflicht, in solcher Not zu helfen.
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Manche Politiker in der Europäischen Union befürchten, dass eine erneute Aufnahme von Flüchtlingen den rechtsextremen Parteien in die Hände spielen würde. Doch hat gerade die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen gezeigt, dass die Leute sich von diesen Parteien nicht so leicht verführen lassen, wie das oft behauptet wird. Sie sind ja nicht blöd. Sie durchschauen auch, dass Moria ein Lager ist, in dem die EU Flüchtlinge der Abschreckung opfert: Schaut her, ihr Elenden in Afrika, so ergeht es euch, wenn ihr ebenfalls versucht, über Moria ins gelobte Land zu kommen, nach Deutschland.
Vertrag Die Grundwerte der Europäischen Union sind in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankert.
Grundwerte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören.
Die EU hätte in dieser Lage die Möglichkeit zu beweisen, dass sie mehr ist als eine Wirtschaftsunion, nämlich ebenso eine Union der Werte. Europa und damit das Abendland gründet sich auf drei Stützen: den Geist der Antike, das Judentum und das Christentum. Alle drei Quellen halten Handlungsanleitungen für die Gegenwart bereit, in allen dreien gibt es Bekenntnisse zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit.
Beginnen wir mit dem Judentum: Der Begriff Nächstenliebe stammt aus einem Tora-Gebot: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin JHWH“, das heißt Gott.
Jesus erweiterte die zunächst auf das jüdische Volk beschränkte Nächstenliebe zum Zentralbegriff des Christentums: das selbstlose Eintreten für andere ohne Rücksicht auf deren soziale Stellung oder Verdienste. Entsprechende soziale Regeln und Normen sind in den meisten Religionen und Philosophien als ethisches Grundmotiv verankert.
Immanuel Kant, der große Geist der Aufklärung, hat das folgendermaßen formuliert: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Auf Moria bezogen müsste es heißen: Handelt so, wie ihr selbst behandelt werden wolltet, wenn ihr Flüchtlinge im abgebrannten Lager wäret.
In der antiken Dichtung und Philosophie hängt die Nächstenliebe etwas tiefer, unter dem Grundwert der Gerechtigkeit. Auf dieser Stufe erscheint sie auch in einer bewährten Schullektüre, der „Antigone“ des Sophokles. In dieser Tragödie geht es zwar nicht um Flüchtlinge, aber doch um Staatsräson. Im Mittelpunkt stehen Antigone, die Tochter des Ödipus, und ihr Onkel Kreon, der Herrscher von Theben. Ausgelöst wird die Auseinandersetzung der beiden im Drama durch das Verbot Kreons, den Leichnam des Polyneikes, des Bruders der Antigone, zu bestatten, da dieser seine Heimatstadt Theben mit Waffengewalt erobern wollte. Kreon unterlegt sein Verbot mit politischen Argumenten, er bezweckt damit Abschreckung. Antigone, die Kreons Gebot missachtet und den Bruder bestattet, begründet ihre Tat mit den ungeschriebenen Gesetzen der Liebe zu den Blutsverwandten und dem Gehorsam gegen die Götter. Kreon lässt Antigone töten, doch die geht aus dem Zwist als moralische Siegerin hervor.
Schön wäre es, wenn auch auf Moria die Moral über die vorgebliche Staatsräson triumphierte. Wir müssen handeln, können nicht mehr zusehen, dürfen die Griechen nicht allein lassen und sollten als Gastgeber auf Zeit den übrigen Ländern mit gutem Beispiel vorangehen. Das Abendland verpflichtet.