Nachruf  Judith Kerr im Alter von 95 Jahren gestorben

London · Die deutsch-britische Autorin wurde mit dem Kinderbuch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ berühmt.

Ihr Glück, als Kind den Nazis entkommen zu sein, reichte ihr ganzes Leben lang. Und es strahlte selbst auch im Alter noch in die finstere Zeit zurück. Als sie später dann ein Kinderbuch darüber schrieb, hätte sie fast vergessen, Hitler zu erwähnen. Der muss doch auf die erste Seite, hatte ihr Mann angemahnt. Judith Kerr ließ ihn dann erstmals auf der zweiten Seite vorkommen und packte ihn dafür direkt in den Titel: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, das 1973 in deutscher Übersetzung erschien, mit dem Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und alsbald ein Millionen-Bestseller wurde. Am Mittwoch ist die deutsch-britische Erzählerin und Zeichnerin  95-jährig in London gestorben.

Ein unglaubliches, mutiges, verwegenes und bewegendes Buch: Als fast 50-Jährige hatte sie über Flucht, Vertreibung und Rassismus aus ihrem Blickwinkel damals als Kind geschrieben. Darüber also, wie der Mann auf all den Plakaten doch eigentlich wie Charlie Chaplin aussieht. Doch eine Schulkameradin sagt, dass dies Hitler sei und der – wenn alle bei den Wahlen für ihn stimmten –, den Juden einen Riegel vorschieben werde. Selbst Rachel Löwenstein? Das kann Anna nicht glauben, immerhin ist Rachel Klassensprecherin.

Doch es kommt alles noch viel schlimmer in diesem Jahr 1933. Denn Annas Vater ist einer der berühmtesten Theaterkritiker der Weimarer Republik, unerbittlich in seinen Urteilen und ein erklärter Hitler-Gegner. So muss die Familie Hals über Kopf aus Deutschland fliehen, als Hitler Reichskanzler wird. Es geht für die Familie zunächst in die Schweiz, dann nach Paris, schließlich nach London. Zum feierlichen Abschiednehmen bleibt kaum noch Zeit – „Auf Wiedersehen Diele, auf Wiedersehen Wohnzimmer“, zählt Anna auf –, und zum Packen auch nicht. In all der Hast steckt das Mädchen tatsächlich den blöden Wollhund ein und lässt dafür ausgerechnet ihr liebes rosa Kaninchen mit den aufgestickten Augen zurück. Damit werde, so fürchtet das Kind, jetzt wohl dieser Hitler spielen.

Ein Buch über Flucht und Exil, über das schwierige Leben in fremder Sprache, über existentielle Not. Es hat viele Menschen noch schlimmer getroffen in dieser Zeit. Und natürlich wusste das auch Judith Kerr. Dass ihr Buch dennoch so berührt und so schrecklich viel über die Zeit zu sagen vermag, liegt wahrscheinlich am kindlichen Blick. In ihren Augen werden die kleinen Sorgen dann riesengroß. Und als Kind hat sie das unbestreitbare Recht dazu, den Verlust des Stoff-Kaninchens so sehr zu beklagen.

Das Buch ist der erste Teil einer autobiografischen Trilogie. Lesenswert sind alle drei, der erste aber blieb der bedeutendste. In England wurde sie vor allem als Zeichnerin und Illustratorin berühmt. Ihr Bilderbuch „Ein Tiger kommt zum Tee“ ist ein Klassiker geworden; und gleich 17 Folgen durfte „Mog, der vergessliche Kater“ erleben.

Judith Kerr hat mit den Worten der kleinen, neunjährigen Anna von ihrem Leben erzählt, wie sie es damals unmittelbar erfahren und erleiden musste. Es ist aber auch die Geschichte von ganz besonderen Eltern, von den unpraktischsten Menschen der Welt, die vieles nur gemeinsam mit ihren Kindern meistern können. Für das Kind ist es aber auch die Entdeckung einer neuen Welt geworden. Gerne hat sie später immer davon erzählt, wie ihr Bruder und sie das Leben zunächst in der Schweiz und später in Paris genossen haben. Nichts habe sie dort verstanden, und plötzlich jedes Wort. Ihrem Vater soll sie sogar gesagt haben: „Ist es nicht herrlich, Flüchtling zu sein?“

„Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ ist eine Liebeserklärung an Alfred und Julia Kerr und zugleich an das Leben. Wer der tödlichen Bedrohung entkommt, weiß Alltägliches Tag für Tag zu schätzen. „Ich hatte überhaupt so ein unglaublich glückliches Leben“, sagte sie noch als 93-Jährige.

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