Weihnachten und die Popkultur Warum „Last Christmas“ dem Fest nie die Würde nehmen wird – im Gegenteil

Analyse | Düsseldorf · Weihnachten bedeutet für viele Menschen vor allem „Last Christmas“ und „Kevin – Allein zu Haus“. Mancher mag jedoch fragen: Wo ist Gott bei alledem? Die Antwort ist verblüffend.

 Für viele der Inbegriff von Weihnachten – für andere schauderhaft: „Last Christmas“ von Wham.

Für viele der Inbegriff von Weihnachten – für andere schauderhaft: „Last Christmas“ von Wham.

Foto: dpa

Der Radio-DJ ist eine der wichtigsten Figuren der Popkultur, und sein erster Auftritt war eng mit dem Weihnachtsfest verknüpft. Der kanadische Rundfunk-Pionier Reginald Fessenden experimentierte mit der drahtlosen Übertragung von Musik für möglichst viele Menschen. Als er 1906 in Brant Rock in Massachusetts auf Sendung ging, begann die Kulturgeschichte des DJs. Es war Heiligabend, und Fessenden las aus der Bibel vor, spielte „Stille Nacht“ auf der Geige und sang dazu. Man könnte sagen, dieser Vortrag war der erste weltweite Weihnachtshit. Die Sendung wurde sogar auf Schiffen in der Karibik empfangen.

Die Populärkultur ist verliebt in Weihnachten. Viele Menschen haben direkt „Last Christmas“ im Ohr, wenn sie an das Fest denken. Jeder Popstar schreibt irgendwann einen Weihnachtssong, die Serie „Die Simpsons“ begann einst mit einer weihnachtlichen Folge, und in den USA gucken sie nun wie jedes Jahr das Christmas Special der Peanuts. Der Tannenbaum ist das allerorten verständliche Symbol dieser Zeit, den Weihnachtsmann stellen sich große Teile der Weltbevölkerung so weißbärtig und rot kostümiert vor, wie Coca-Cola ihn seit den 1920er Jahren inszeniert. Und zur Folklore gehört auch, dass man „Kevin - Allein zu Haus“ schaut und „Tatsächlich…Liebe“ und sich auf einen Glühwein trifft.

Und wo ist Gott bei alledem? Der Vorwurf wird oft erhoben, dass die Popkultur den Gehalt der biblischen Weihnachtsgeschichte in „Pumpkin Spice Latte“ ertränkt, unter all dem Flitter unkenntlich und durch Gemütlichkeit zahnlos gemacht hat. Richtig daran ist, dass nicht mehr die Kirche die Deutungshoheit über das Fest hält. Dennoch bleibt Weihnachten ein spirituelles Ereignis. Nicht trotz der Vereinnahmung durch das Populäre. Sondern gerade deswegen.

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Stephan Wahle ist Theologe an der Uni Freiburg. Er sagt, das Verständnis des ursprünglich stark liturgisch aufgeladenen Weihnachtsfests habe sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts gewandelt. Das Bürgertum entdeckte Weihnachten damals für sich. Das Wohnzimmer wurde zur Kathedrale, in der es die Bescherung zelebrierte. Die Familie stand im Mittelpunkt, die Kinder spielten eine besonders wichtige Rolle. „Der religiöse Aspekt wurde durch einen stark kulturellen ergänzt“, so Wahle.

Auf dieser Basis hat die Popkultur die Bräuche und Traditionen in Liedern, Filmen und Produkten in die Welt getragen. Und gerade damit zur Verbreitung der Essenz dessen beigetragen, was der Engel des Herrn in der Bibel verkündet: „Fürchtet Euch nicht! Denn siehe, ich verkünde euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll.“ Die wichtigsten Worte darin: Keine Furcht. Große Freude. Allem Volk.

„Es hat die Verflüssigung der biblischen Narrative in die ganz konkrete Lebenswelt stattgefunden“, sagt Wahle. „Eine wesentliche Aussage des Evangeliums wird in die Welt hineingetragen. Das Kreuz als Symbol von Tod und Auferstehung spielt natürlich keine Rolle. Aber zur Botschaft Jesu gehört das Universale, und das finde ich in der Popularisierung von Weihnachten wieder.“ Weihnachten sei etwas gelungen, das es bei anderen kirchlichen Festen in dieser Form nicht gibt. Es ist nichts Elitäres und kein Dogma mehr, sondern ein verbindendes Datum der allgemeinen Lebenskultur.

„Dabei merkt man, dass auch Leute, die keinen Bezug zum Glauben haben, diese Botschaft des Lukas-Evangeliums, diese Friedensverheißung, diese Botschaft des Menschlichen feiern“, sagt Wahle. „In unbewusster Weise läuft da etwas, was ein gläubiger Mensch als Gottesbegegnung bezeichnen würde. Und ein Nicht-Gläubiger denkt auf einmal unverfügbar etwas Größeres, was er vorher vielleicht nicht gemacht hat.“ So wird das Besondere an dieser Zeit, das auch Atheisten empfinden dürften, doch zu etwas Spirituellem. „Eine populäre Spiritualität, die ansetzt bei den menschlichen Erfahrungen“, ergänzt Wahle. Als Zeit der Sehnsucht also, der Einkehr und Dankbarkeit. Weihnachten ist in jeder Beziehung dem Alltag enthoben.

„Für mich ist das Weihnachtsevangelium der wichtigste Text, der verfasst wurde“, sagte Martin Walser einst im Interview mit den „Spiegel“. „Ich halte das für die schönste, beste Geschichte, die je von Menschen ersonnen und formuliert wurde.“ Dabei sei er sich gar nicht sicher, ob er an Gott glaube, ergänze der Schriftsteller. Und vielleicht ist es genau das. Die biblische Grundbotschaft der Weihnachtsgeschichte drückt die Hoffnung auf eine bessere Welt aus. Der Anbruch einer neuen Zeit, die wahren Frieden bringt. Weihnachten ist ein diesseitiges Fest, von dem niemand ausgeschlossen werden soll.

Große Freude also. Allem Volk.

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