Udo Jürgens Seine Lieder erzählen deutsche Geschichte

Zürich · Udo Jürgens hat nie nur von Herzschmerz gesungen, sondern überraschend oft von sozialen Themen, die die Menschen bewegten. Eine Zeitreise durch seine Texte.

Udo Jürgens in der "Helene Fischer Show" - sein letzter Auftritt
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Udo Jürgens in der "Helene Fischer Show" - sein letzter Auftritt

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Zu den Markenzeichen des großen Künstlers Udo Jürgens zählte seine Stimme, die gegen Alterung imprägniert schien. Über Jahrzehnte war sie immer beides: schmeichelnd und schneidend. Sie hatte Gefühl und Biss. In der Mittellage fühlte sie sich am wohlsten, und das war auch der Grund, warum seine Lieder von so vielen Menschen mitgesungen werden konnten.

Zugleich erhöhte diese Qualität die Intensität seiner Botschaften, denn Jürgens war kein Schlagerfuzzi, bei dem sich immer nur Schmerz auf Herz reimte und die Sehnsucht nach einem Kuss im Vordergrund stand. Bei Jürgens schlug die Sehnsucht oftmals in Resignation um, wie überhaupt seine Lieder eine Melancholie verströmen, die einen verwundert.

Indes beherrschte Jürgens das Sujet der sozialen Skizze meisterhaft. Ehe ohne Trauschein, Gastarbeiterprobleme, Umweltverschmutzung, sozialer Rückzug, Bausünden - das waren immer wieder seine Themen. Jedes dieser Lieder erzählt in der Tat eine kleine Geschichte, am intelligentesten vielleicht in "Ich war noch niemals in New York", wo Fernweh und Tristesse des Alltags eine raffinierte Verbindung eingehen.

Damit spiegelten seine Songs eher intuitiv als beabsichtigt die deutsche Nachkriegsgeschichte, nicht immer synchron, aber stets mit Hingabe. Ihm glaubte man, was er sang. Hier eine Stippvisite bei einigen markanten Liedern.

"Griechischer Wein" (1974) Dieses Lied ist sozusagen Jürgens' Version von "Drink doch ene met", jedoch nicht unter Kölner Eingeborenen, sondern unter griechischen Gastarbeiter, die sozusagen in der Taverne "Dionysos" sitzen und von der Heimat träumen. Regelmäßig klimpern in den Strophen Bouzoukis ihre Terzen. Diese Männer sind von einer tiefen Schwermut ergriffen, die aus dem Refrain herausbricht, der die Wurzeln dieser Leute beschwört; genährt wird die Schwermut vom Blut der Erde. Der Wein ist hier das große Betäubungsmittel, mit dem Trauernde alles ertränken.

"Ein ehrenwertes Haus" (1974) Ein Brandbrief in Musik, den Jürgens den Mietern eines Hauses widmet, die ein junges Paar rausekeln wollen, das in wilder Ehe lebt. Die Heuchelei der Mietparteien wird mit saftigen Beispielen beschworen; in diesem Song hat Jürgens sich seine Wut auf gesellschaftliche Verlogenheit von der Seele geschrieben - doch der Brandbrief ist auch ein Freibrief in eigener Sache: Jürgens lehrte nicht grundlos den Freisinn, wenn es um eheliche Reglementierung ging. Jürgens selbst hat diverse Mal seine "sieben Sachen" gepackt und ist ausgezogen.

"Mit 66 Jahren" (1976) Es gibt nicht viele Lieder, welche die Abkehr vom Sofa als dem Ruhesitz der Rentner besingen - dieses ist das heiterste davon. Da machen Oldies eine Band auf, gehen mit dem Enkel Kevin auf die Rolle, ein "ausgeflippter Alter" singt im Stadtpark zur Gitarre - das Alterslimit der Spaßgesellschaft wird in diesem Lied nach oben hin aufgehoben; es ist zugleich die Antwort auf den Hippie-Kult, der den Jugendlichen vorbehalten schien. In Jürgens' Lied bindet der Sänger "Blumen an seine Denkerstirn" und trampt nach San Francisco. Dass dazwischen ein Ozean liegt - egal!

"Fünf Minuten vor zwölf" (1982) In diesem Lied wird der Sänger und Texter Jürgens zum Wutbürger, denn ihm stirbt alles unter den Augen weg, was ihm wichtig ist. Die Natur. Die menschliche Zuneigung. Der Soldat. Die Luft zum Atmen. Das klare Wasser. Doch in diesem bedrohlichen Untergangs-Szenario keimt auch unversehens die Hoffnung, etwa durch einen Akt der Mitmenschlichkeit: "Der gab einem Hilflosen die Hand." Das Lied zählt mit seinem kursorischen Klagegestus zu Udo Jürgens' schwächeren Werken, es will zu viel auf einmal und verliert seine Dringlichkeit.

"Gehet hin und vermehret euch" (1988) Der wie stets bängliche Bayerische Rundfunk sah in diesem Lied eine unzulässige musikalische Verbindung zwischen der Verhütungspolitik des Vatikans und der Überbevölkerung auf der Erde - der Sender setzte es auf den Index. Gemeint ist der Papst, wenn es in einer von Jürgens' Zeilen heißt: "Und da hat einer gütige Hände / und ein gutes, kluges Gesicht, / aber denkt er das Diesseits zuende, / wenn er vom Jenseits spricht?" Hier wird Kritik an der Kirche in jene Frageform gekleidet, die stets mehr Nachdenklichkeit bewirkt als die Häme.

"Ich war noch niemals in New York" (1989) Dieses Lied wurde erst mit zwölf Jahren Verspätung zum Klassiker - es brauchte offenbar etwas Zeit, bis das Publikum begriff, dass der Refrain den roten Faden Sehnsucht eines Mannes sponn, dem daheim die Decke auf den Kopf fällt. Hier gelingt der Ausbruch nicht, obwohl das Lied genau von dieser Befreiung singt: "Ich war noch niemals richtig frei!" Am Ende kehrt der Mann selbstverständlich zu seiner Familie heim und sagt: "Was soll schon sein?" Die Frau: ",Wetten, dass . . ?' geht gleich los." Das Ich - gefangen im Familienprogramm.

(RP)
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