„Bisschen bescheuert, aber eigentlich ganz gut“ Warum wir 2021 dringend Sommerhits brauchen

Nie zuvor brauchten die Menschen so dringend einen Sommerhit wie in diesem Jahr. Er liefert den Soundtrack fürs Miteinander. Und wirkt wie eine akustische Vitamin-D-Infusion. Da ist es dann auch nicht schlimm, wenn sein Text ein bisschen gaga klingt.

 Sommerhits erzählen meist von barfüßigen Menschen, die sich am Strand aufhalten.

Sommerhits erzählen meist von barfüßigen Menschen, die sich am Strand aufhalten.

Foto: iStock

Kennen Sie Glochiden? Das sind diese feinen und mit Widerhaken versehenen Kaktusstacheln, sie sich total leicht von der Pflanze trennen und unsichtbar und vor allem unauflösbar in der Haut steckenbleiben, wenn man mit dem Arm oder der Hand drangekommen ist. Man kann Glochiden kaum entfernen, bloß hoffen, dass sie rasch von alleine weggehen. Bis dahin machen sie sich immerzu bemerkbar, durch Jucken, Kribbeln, Stechen und Ausschlag. Sommerhits funktionieren im Grunde genau so. Setzen die sich einmal im Ohr fest, bleiben sie da. Auch Sommerhits haben nämlich Widerhaken, sehr fiese sogar. Sie klingen so: „Ya-ya-ya coco jambo, ya-ya yeah“. Oder so: „Bailando, bailando / Amigos adiós, adiós, el silencio loco“. Und so: „Ma-i-a hi / Ma-i-a hu / Ma-i-a ho / Ma-i-a ha-ha“. Sommerhits sind die Glochiden des Musikbusiness.

Ein richtiger Sommerhit wurde so produziert, dass man ihn in der prallen Sonne auch nach einem Eimer Sangria noch mitsingen kann. Man hört ihn beim Betreten der Strandbar, man hört ihn beim Leute-Umarmen und Zuprosten. Und wenn man nachts im Bett liegt und nicht schlafen kann, weil sich alles dreht, hört man ihn immer noch, obwohl er gar nicht mehr läuft.

Drei Minuten Sommerhit sind zumeist randvoll mit allen marktgängigen Klischees. In den Geschichten, die Sommerhits erzählen, sind die Menschen barfuß, sie halten sich am Strand auf, und dort tanzen sie und sind miteinander und zusammen, und sie haben eine gute Zeit. Und weil Sommerhits oft spanischsprachig sind, eignen sich aufmerksame Hörer über die Jahre ein brauchbares Urlaubsvokabular an, in dessen Zentrum das Verb „bailar“ steht. Sommerhits präsentieren den kleinsten gemeinsamen Nenner eskapistischer Utopie. Sie symbolisieren den größtmöglichen Abstand zum Winter. Sie sind eine akustische Vitamin-D-Infusion. Und gerade deshalb brauchen wir Sommerhits in diesem Jahr so dringend wie nie zuvor.

Wie groß das Bedürfnis ist, erkennt man auch daran, dass das amerikanische Billboard-Magazin bereits im Mai 20 Kandidaten aufgelistet hat, die das Zeug zum Sommerhit 2021 haben. „Peaches“ von Justin Bieber ist darunter, auch „Butter“ von BTS. Wirklich wissen, welches Lied einen auch im Februar noch seufzen und an Spanien, Frankreich oder sonstwo denken lässt, kann man natürlich erst später. Den offiziellen Sommerhit notariell beglaubigt bekommt man jedenfalls meist Anfang August von der Gesellschaft für Konsumforschung. Sie gibt dann eine Pressemitteilung heraus. Im vergangenen Jahr stand da: „Savage Love (Laxed - Siren Beat)“ von Jawsh 685 & Jason Derulo.

Der König der Sommerhits ist „Despacito“ von Luis Fonsi und Daddy Yankee aus dem Jahr 2017. Sieben Milliarden Mal wurde der Titel bei YouTube abgerufen. Sommerhits stammen fast nie von arrivierten Kräften, obwohl in diesem Jahr auch „Cover Me With Sunshine“ von Pink und „Bad Habits“ von Ed Sheeran gehandelt werden. Von Radiohead ist jedenfalls kein Sommerhit denkbar. Meist handelt es sich um Newcomer, von denen man später nichts mehr hört. Es sei denn, in einer Sondersendung über Sommerhits. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass man auf ein unbeschriebenes Blatt seine Träume besser projizieren kann. Soziologen würden sagen: Der Interpret des Sommerhits erschafft eine Welt, in der die Welt erst hergestellt wird, die er zu besingen behauptet.

Klassische Sommerhits heißen „Vamos a la playa“, „Ketchup Song“ oder „Bongo Cha Cha Cha“. Sie sind immer ein bisschen bescheuert, aber eigentlich ganz gut. Man schüttelt den Kopf darüber und wippt zugleich mit den Füßen. Gebrauchsmusik ist das. Augenblicksware. Sie braucht nicht lange zu halten, sie soll einen lieber direkt und heftig packen. Und sie darf ruhig noch Luft haben, etwas Platz frei lassen. Gute Sommerhits sind nämlich erst vollständig, wenn man sie mit den Geräuschen des Lebens ergänzt, verfeinert und veredelt: Wasserplätschern, Eiswürfelklickern, Strohhalm-Blubbern und FlipFlop-Schmatzen.

Wenn man wieder daheim ist und im Büro und im Regen, wirken Sommerhits wie kleine Erinnerungscontainer. Man hört sie im Radio und freut sich, und wenn ein Kollege sie auch hört, freut er sich vielleicht auch. Und wenn man merkt, dass er sich auch freut, fragt man, wo er denn hingefahren ist und wo er noch hinfahren möchte. Und vielleicht trinkt man dann einen Kaffee zusammen, und der schmeckt nicht mehr dünn und bitter, sondern ein ganzkleinbisschen wie Tinto de Verano oder Menthe à l’eau.

Jedenfalls: Hoffentlich hat der Sommerhit 2021 viele Widerhaken.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort