Konzert per Internet Moers-Festival als Livestream – mit Applaus aus der Konserve

Moers · Die Veranstalter des Moers Festivals haben sich in Zeiten der Corona-Maßnahmen auf ihr größtes Talent verlassen: die Improvisation. Viele Konzerte konnten stattfinden – mit historischem Applaus vom Band.

Die Band LFANT.

Die Band LFANT.

Foto: Ja/Norbert Prümen (nop)

Im Schlosspark Moers sitzt eine Gruppe Alt-Hippies um ein Smartphone versammelt. Die Musik aus dem Funk-Lautsprecher klingt nach Jazz. Ob sie den Live-Stream des Moers Festivals schauen? „Nein, kein Internet.“ Aber eigentlich würden sie gerne und haben auch sonst Sehnsucht: Nach den alten Tagen, als sie auf dem Festival Maceo Parker und Pharoah Sanders erlebt haben; als der Schlosspark noch eine riesige Zeltstadt war und der Geruch von Freiheit über allem lag. „Eigentlich würden wir viel näher beisammen sitzen, uns vielleicht sogar in den Arm nehmen“, sagt einer. Aber in der Zeiten der Virus-Eindämmungsmaßnahmen gelten eben andere Regeln, mit denen muss auch das Moers Festival umgehen muss. Die Veranstalter müssen improvisieren – aber das konnten sie ja schon immer am besten.

Das Team um den künstlerischen Leiter Tim Isfort hat es geschafft, ein Festival mit Live-Konzerten ohne Publikum, aber mit Applaus zu schaffen, das die klaffende Wunde zeigt, die die Corona-Maßnahmen für Kulturereignisse bedeuten, aber trotzdem etwas vom Geist vergangener Tage bewahrt. Journalisten und Mitarbeiter gehören zu den sehr wenigen Menschen, die sich während der Pfingsttage in der Festivalhalle aufhalten. Sie dürfen die Konzerte tatsächlich live erleben, aber ob sich dieses Erlebnis positiv vom Live-Stream auf dem heimischen Laptop oder der Leinwand samt guter Hifi-Anlage im Garten abhebt, sei dahingestellt. Sie schnaufen in Atemmasken und sitzen ansonsten stumm auf einzelnen, weit voneinander entfernten Stühlen am Rande eines Ereignisses, das von zwei Bühnen, jeder Menge Kameras und Kabeln beherrscht wird.

Manchmal heben sie die Hände winkend zum Applaus – wie für eine Darbietung von Gehörlosen. Denn der eigentliche Applaus kommt vom Band, Applaus von historischen Moers-Konzerten. In das Spiel des Quartetts um den Ruhrgebiets-Schlagzeuger Achim Krämer und den umtriebigen Münsteraner Saxophonisten Jan Klare grätscht zum Beispiel manchmal der Beifall, den das Sun Ra Arkestra 1979 bekommen hat. Ein Techniker ist eigens für die Einspieler abgestellt – und oft fügt sich der Jubel organisch ein, einige Male stört er aber auch in stillen Momenten. Die Musik des Krämer-Quartetts scheint aus diesen stillen Momenten Kraft zu schöpfen für neue ekstatische Ausbrüchen. In ihnen setzt sich Posaunist Hilary Jeffery ab und zu eine Maske auf und rezitiert Unverständliches. Aber egal, die Musik ist die Botschaft.

Und die Botschaft ist – wie immer in Moers – völlige Freiheit. Eine noch bessere, kraftvollere und trotzdem fein akzentuierte Version der vollkommen freien Improvisation, die aus dem Moment schöpft, bringt das neu gegründete Ensemble 51% um die Saxophonistin Silke Eberhard in die Halle. Der Titel des Projekts spielt auf ein bis heute bestehendes krasses Missverhältnis an: 51 Prozent der Weltbevölkerung sind Frauen. Im Jazz spielen sie wie in anderen Bereichen der Gesellschaft allerdings eine stark untergeordnete Rolle. „Wir möchten das ändern“, behauptet das Moers Festival im Ankündigungstext zur neuen Formation. Zumindest dieses Jahr bleibt das Behauptung. Die grandiose Aufführung von 51%, das Bild der phantastischen Schlagzeugerin Yuko Oshima, die mit links nach oben gerecktem Kopf ihren Rhythmus aus anderen Sphären zu empfangen scheint, steht erratisch neben Konzerten wie dem des Trios Gewalt: Da posieren eine Gitarristin und eine Bassistin wie Statistinnen auf Podesten um den vor Schweiß und Pathos triefenden Patrick Wagner, der schwere Gesangslinien vor laute Rock-Gitarrenwände platziert.

Der freien Improvisation im Ensemble stehen durchkomponierte Klänge wie die des Niels Klein Trio gegenüber, das mit dem großen EOS Kammerorchester musiziert, oder die in Anspielung auf die Virus-Wissenschaft so genannten „Aerosolos“ zum Beispiel von Chilly Gonzales. Gut 100.000 Klicks, schätzen die Veranstalter am Montagmittag, wird ihr in Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender Arte hergestellter Festival-Stream am Ende gehabt haben. Auch wenn man bei solchen Zahlen skeptisch sein muss, klingt das nach einem großen Erfolg – und die Künstler, die teilweise bis Ende des Jahres überhaupt keine weiteren Auftritte verzeichnen, werden dem Team die Live-Möglichkeit unter tristen Bedingungen auf jeden Fall danken. Ihre Situation bringt den legendären Konzertveranstalter Berthold Seliger im Interview auf dem Festival zur Forderung: „Was es jetzt braucht, ist das bedingungslose Grundeinkommen!“

INFO Das Moers Festival wurde 1972 als Internationales New Jazz Festival gegründet und geriet 2010 in finanzielle Schieflage. Seit 2016 läuft es unter dem künstlerischen Leiter Tim Isfort auch mithilfe von Bundesmitteln finanziell und künstlerisch wieder rund. Der Live-Stream der aktuellen vier Festival-Tage steht in der Arte-Mediathek weiter zur Verfügung. www.arte.tv

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