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Das Metronom ein Quälgeist? Sein letzter Wille

Wien · Ludwig van Beethoven hat als erster großer Komponist viele wichtige Werke mit Metronomzahlen versehen. Heute fluchen junge Künstler nur noch, wenn sie den Tick-tack-tick-tack-Kasten hören. Eine Ehrenrettung eines ungeliebten Geräts.

 Ein modernes Metronom (Symbolbild).

Ein modernes Metronom (Symbolbild).

Foto: Nikko

Im Barock brauchte dieses Gerät kein Mensch. Musikstücke kamen – wie in Bachs Orchestersuiten – oft als Tänze daher, deren Tempo jeder im Kopf und im Bein hatte. Jetzt aber war späte Klassik, die Literatur hatte Sturm und Drang erlebt, die Französische Revolution alte Ordnungen auf den Kopf gestellt, die Musik wurde zunehmend persönlich, und Ludwig van Beethoven notierte für den dritten Satz der „Hammerklaviersonate“ eine vieldeutige Überschrift: „Adagio sostenuto, Appassionato e con molto sentimento“. Was bedeutete das? Wie schnell oder langsam sollte man das spielen?

Den Komponisten Beethoven wurmte diese Interpretationsunsicherheit, weil sie dem Musiker eine unerwünschte Deutungshoheit über das Tempo einräumte. Doch Rettung nahte – in Gestalt des von Johann Nepomuk Mälzel in Umlauf gebrachten Metronoms.

Mälzel, der führende Mechanikus seiner Zeit, hatte sein Metronom 1815 der Welt als Patent vorgestellt. Er folgte dem Franzosen Marin Marsenne und dem Niederländer Diederich Nikolaus Winkel, die Prototypen konstruiert hatten. Endlich schienen die Zeiten vorbei, dass Klavierschüler beim Üben vor lauter Nervosität immer schneller wurden. Auch für Musiker, die ein Werk bereits beherrschten, konnte das Metronom ein Regulativ sein: In dessen Wert, der sich auf einer Skala einstellen ließ, konkretisierte der Komponist seine Tempoangabe. Das Gerät galt alsbald als der Tempomat des frühen 19. Jahrhunderts.

Früher hatte man am Handgelenk seinen Puls getastet, der indes von Mensch zu Mensch unterschiedlich schnell war und im Tagesverlauf schwankte. Später schaute man auf die Uhr und leitete von ihr eine Temporelation ab. Jetzt, dank Mälzel, war alles einfach: Tick-tick-tick-tick – diese Monotonie konnte keiner überhören, sie disziplinierte auch Freigeister, die mit Tempi nach eigenem Gutdünken umgingen. Irgendwann musste gewiss die Feder im Inneren wieder aufgezogen werden, aber das war nur ein Handgriff, verglichen mit den Vorteilen des penetranten Krachschlägers. Beethoven war zufrieden und schrieb im Dezember 1817: „Was mich angeht, habe ich schon lange darauf gewartet, diese widersinnigen Benennungen Allegro, Andante, Adagio, Presto aufzugeben. Mälzels Metronom gibt uns hierzu die beste Gelegenheit.“

Beethoven und das Metronom – das ist indes ein unablässig pochendes Thema, das Zweifel eher geschürt als beseitigt hat. Bis heute herrscht ein Glaubenskrieg. Beethoven hat nämlich einige seiner Werke (die neun Sinfonien und jene „Hammerklaviersonate“) im Nachhinein mit Metronomangaben versehen, die oft sehr schnell, manchmal atemberaubend, in Einzelfällen unspielbar sind.

Jenes „Adagio sostenuto“ ist mit 92 pro Achtelnote beziffert, das ist einleuchtend. Der Kopfsatz hingegen verlangt für eine halbe Note den Wert 138 Schläge pro Minute, diese Anforderung hat bis heute kein Pianist bewältigt, selbst Artur Schnabel nicht, der Konditions- und Technikvirtuose des frühen 20. Jahrhunderts, der für sein opferfreudiges Ringen um sehr schnelle Tempi bekannt war – und dafür, dass er Ausdruck steigerte, indem er ihn vermied. Schnabel kam auf 131 und ist bei diesem Satz bis heute der ungekrönte Etappensieger. Ein paar Flüchtigkeitsfehler waren der (unbedeutende) Preis der Unterwerfung.

138 – das wäre wahrlich ein Affenzahn, der reine Aberwitz, der fast auch den automatisierten Pianisten erfordert, eine Klaviermaschine, die nicht nur Noten rattert, sondern auch Materialprüfung betreibt. Hält der Flügel dieses Tempo aus? Und hält der Hörer es aus, wenn Beethoven im Zeitraffer an ihm vorbeifliegt? Senkt der höllische Speed nicht die Schärfe der Wahrnehmung?

Etliche Musiker verneinen die Frage, ob Metronomangaben eine ebensolche Verbindlichkeit besitzen wie die Noten. Für sie sind sie ein Zusatz, eine Art gut gemeintes Orientierungsschild beim Betreten eines Musikstücks, das der Interpret befolgen oder ignorieren kann. Tatsächlich hängt die Entscheidung für ein Tempo immer von äußeren Bedingungen ab: von der Kompetenz der Musiker (die Beethoven häufig ignorierte). Vom Raum und seinem Nachhall. Von den Instrumenten.

Diskutiert wird auch über Geltungsbereich und -dauer einer Richtgeschwindigkeit. Die Kanoniker glauben, die Metronomangabe sei der Imperativ bereits für den ersten und alle folgenden Takte eines Satzes. Andere vermuten, Beethoven habe das mittlere Tempo gemeint, was Schwankungen zu beiden Seiten der Temposkala gestattete. Ein Freibrief für Geruhsamkeit war keine dieser Lesarten: Der Pianist und Komponist Carl Czerny, der mit Beethoven vertraut war, schrieb noch 1842 über den Kopfsatz der „Hammerklaviersonate“: „Die Hauptschwierigkeit liegt im vom Autor vorgezeichneten ungemein schnellen und feurigen Tempo.“ Der Komponist selbst hatte die Tempovorschrift pragmatisch erläutert: Sie gelte als Richtschnur vor allem für die ersten Takte und den Gesamtcharakter des Satzes, aber nicht durchgehend, „denn die Empfindung hat auch ihren Takt“. Das bedeutete: Am Anfang wurde das Tempo kalibriert, durchboxen musste man es nicht.

Ohne Zweifel war für Beethoven das Tempo die wichtigste Kategorie bei der Interpretation. Wo immer eines seiner Werke gespielt wurde, erkundigte er sich später danach. Dabei erlebte der Komponist auch die Irritationen, die das Metronom bei Musikern auslöste: Wo am Pendel las man ab – über oder unter dem Gewicht? Welche Auswirkungen hatte es, wenn man die Mechanik nicht pflegte? Musste man sie ölen? Und womit? Und wie schnell ging ein Metronom kaputt? Das beliebteste Argument gegen Beethovens Exemplar ist bis heute die Annahme, dass es defekt war. Dagegen spricht die logische Systematik, die in allen seinen Tempowerten herrscht. Mag aber sein, dass der taube Beethoven das eine oder andere Tempo in seiner Vorstellung schneller empfand, als es realistisch war. Oder träumte er visionär von Zeiten, in denen Musiker jedes Tempo spielen konnten?

Später folgten weitere Bedenken, wie sie etwa der Niederländer Willem Retze Talsma predigte: Er glaubte, man müsse die Metronomangaben in den schnellen Sätzen halbieren, erst dann machten sie Sinn. Beethoven habe ja nicht im Zeitalter des ICE, sondern der Postkutsche gelebt. Der Gedanke scheint reizvoll, beruht aber auf einem Denkfehler: Der furiose Kopfsatz der „Eroica“ ist ganztaktig mit punktierter halber Note = 60 notiert. Ein Dreiertakt wie dieser lässt sich aber nicht halbieren.

Irgendwann im 19. Jahrhundert waren alle Zahlen vergessen. Beethoven wurde zunehmend in Stein gemeißelt, monumentalisiert, die Tempi wurden immer breiter, bis einzelne Vorkämpfer zwangsläufig nach dem Sinn der Metronomangaben zu fragen begannen. Natürlich spürten sie den Irrwitz, den Beethoven mitunter forderte, doch sie ahnten, dass es sich um Ideenkunst handelte, der eine Sehnsucht eingeschrieben war: die nach der klingenden Feuertaufe. Vielleicht entzündet erst das Versengende der Tempi die Lunte, mit der sich Beethoven schier kinetische Energie abbrennt.

Beethoven hat wohl nie gewollt, dass Musiker seine Metronomwerte sklavisch treffen. Sie sollten den Willen zeigen, in ihre Nähe zu kommen. Bei den Sinfonien wird das von den Dirigenten heutzutage mehr und mehr befolgt, zumal die Lesegenauigkeit der historischen Aufführungspraxis auch das Kleingedruckte am Satzanfang erfasst. Die neue Gründlichkeit hatte aber ihre Vordenker, etwa Theodor W. Adorno; der fand die Annäherung an die originalen, dem Metronom abgelauschten Tempi auch deshalb unumgänglich, weil sie von der Tradition gekidnappt und mundtot gemacht worden seien.

Diese These ging auf Arnold Schönbergs wunderbar giftigen Aufsatz „Über Metronomisierung“ zurück, eine Generalabrechnung mit dem Typ des selbstgefälligen Dirigenten. Schönberg schrieb: „Hat nicht der Autor immerhin auch einen Anspruch darauf, seine Meinung über die Ausführung seines Werkes festzulegen, wo ja doch bei der Aufführung kein genialer Dirigent es unterlassen wird, sich über die Meinung des Komponisten hinwegzusetzen?“ Das war auch auf den wehrlosen Beethoven gemünzt, dessen Metronomangaben Schönberg klirrend eindeutig bewertete: „selbstverständlich richtig“.

Nun reicht ein schnelles Tempo allein nicht aus, um Beethovens grandiosen Schwung freizusetzen. Toscaninis Beethoven-Aufnahmen sind wild, aber nicht immer inspiriert. Nur wenige Dirigenten erfassen den revolutionären Geist der Sinfonien in jeder Faser. Zu ihnen zählen René Leibowitz, dessen Gesamteinspielung aus dem Geist von Rhythmus, Klarheit, gestochener Artikulation und Lebhaftigkeit bis heute unerreicht ist, und vor allem Hermann Scherchen, dem 1958 mit der “Eroica“ und dem Orchester der Wiener Staatsoper eine der erregendsten Beethoven-Interpretationen aller Zeiten gelang.

Das Orchester klingt auf der Aufnahme manchmal, als betreibe es seine eigene Implosion. An einigen Stellen klappert es. Aber dieses Klappern erzeugt nur ein Häufchen Kehricht, das unter Scherchens Feuer verbrennt. Und da Scherchens Motivationskunst noch größer war als seine Strenge, entstand Einzigartiges: das Neue. Ohne Metronom hätten wir es möglicherweise nie erlebt.

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