Rheinische Pioniere Kraftwerk — die Ingenieure der Popmusik

Düsseldorf · Man sollte nicht von Popmusik sprechen, sondern von Industrie-Design. Denn was Kraftwerk in ihrem Soundlabor, dem Düsseldorfer Kling-Klang-Studio, geschaffen haben, hat mit den Posen des Rock nicht mehr viel zu tun. Das Naturwüchsige und Traditionelle sind nicht länger Referenz auf Alben wie "Autobahn" und "Trans Europa Express", ebenso wenig das verschwitzte Muckertum und die Verausgabung. Stattdessen: das Geordnete und der kristallene Glanz. Kraftwerk ist Ingenieurskunst für die Ohren.

Bilder vom Kraftwerk-Auftritt in Düsseldorf
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Foto: dpa, Oliver Berg

Wenn man die Leistung von Kraftwerk ermessen möchte, muss man zurückschauen ins Jahr 1969. Damals erschien das Album "Tone Float" der Band Organisation, und das war die erste gemeinsame Veröffentlichung der späteren Kraftwerk-Gründer Florian Schneider und Ralf Hütter. Es gab in jener Zeit außer im Schlager keine nationale Musiktradition. Die Menschen waren 25 Jahre nach Kriegsende auf Musik aus den USA fokussiert, auf Rock'n'Roll.

Was Organisation und Gruppen wie Amon Düül, Tangerine Dream oder Popol Vuh damals machten, war neu, revolutionär. Es verstieß gegen das Muster aus Strophe und Refrain, gegen die Vorgabe des Song-Schemas. Sie brachen mit der amerikanischen Musiktradition und gaben ihren zumeist instrumentalen, ausufernden und kaum auf einer Plattenseite zu bändigenden Stücken deutsche Titel. Sie improvisierten, sie manipulierten Instrumente oder bauten neue, um Sounds zu erzeugen, die noch niemand gehört hatte. Sie wollten eine eigene Musik. Diese Musik kam aus Deutschland, und sie wurde wegen ihres Entstehungsortes Krautrock genannt. Sie war ein Exportschlager und ist bis heute Referenz für die musikalische Avantgarde.

Zwischen 1970 und 1973 erschienen die ersten Alben Schneiders und Hütters unter dem Bandnamen Kraftwerk. Sie sind kaum noch zu bekommen, wurden nie auf CD veröffentlicht und werden von den Künstlern selbst als "Archäologie" abgetan. Wer sie indes hört, kommt der Ästhetik dieser Band auf die Spur. Von Beginn an übersetzten Kraftwerk das Gefühl und den Zustand von Bewegung und Bewegtwerden in Klang. In Stücken wie "Ruckzuck" erprobten sie, wie man mit Tempowechseln Geschwindigkeit simuliert, wie man größtmögliche Klarheit erreicht.

Mit dem Album "Autobahn" begann 1974 die offizielle Geschichte von Kraftwerk, und tatsächlich ist diese Platte so etwas wie der Nullpunkt der elektronischen Musik. "In ,Autobahn' liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Gruppe", schreibt der englische Kraftwerk-Biograf David Buckley. "Im Refrain ,Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn' hörte ich zum ersten Mal deutsche Wörter außerhalb von Kriegsfilmen. Kraftwerk haben die Sprache und Kultur ihrer Heimat internationalisiert." Die Gruppe hatte sich einen Synthesizer angeschafft, und mit Hilfe der Maschine konnte sie ihren Sound perfektionieren. Die Vision Kraftwerks, die reine Effizienz des Sounds nämlich, stand von Beginn an klar da. Das Probieren und Experimentieren bezogen sich in der Hauptsache auf die Umsetzung der Idee. Mit dem Einsatz des Synthesizers endete diese Vorbereitungsphase: Seit die technischen Möglichkeiten da waren, die bereits zum Klingen gebrachten Rhythmusspuren und Melodiebögen neu zu errechnen und entsprechend zu bebildern, wurden sie abermals ausgewertet und in die Endgültigkeit überführt. Aus Experiment wurde Pop. Es begann die Umsetzung des Konzepts "Mensch-Maschine".

Kraftwerk - Elektro-Pioniere in 3D
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Kraftwerk betrieben die Entpersönlichung, sie traten allmählich hinter ihre technisch-ästhetischen Erfindungen zurück. Melodien wurden heruntergekühlt, Strukturen gestrafft. Aber sie wurden doch nicht so lange durchs Kältebad der formalen Einfälle gezogen, dass sie nicht mehr atmen konnten. Kraftwerk ließen ihre Musik warm klingen, obwohl sie doch synthetisch ist. Sie sparten nicht an Humor, wie man am Hup-Geräusch in "Autobahn" sieht oder an der Selbstinszenierung als Tanzmusiker auf dem Cover von "Trans Europa Express".

Von Beginn an war der performative Aspekt ebenso wichtig wie die Musik an sich. Hütter und der 2009 ausgestiegene Schneider entwickelten das Konzept der Mensch-Maschine aus der bildenden Kunst. Die Arbeiten der Düsseldorfer Fotokünstler Bernd und Hilla Becher gaben Anregungen, über das Verhältnis von Urheber und Werk nachzudenken. Die Bechers steuerten ein Foto zur Gestaltung der Innenhülle des ersten Kraftwerk-Albums bei. Das Bechersche Themenspektrum war überschaubar und klar definiert. Sie zeigten Fachwerkhäuser, Förder- und Wassertürme, die sie "anonyme Skulpturen" nannten und zu "Typologien" anordneten, zu Serien von neun oder 15 Bildern also. Identitäten und Differenzen wurden durch Präzision aufgehoben, wobei dennoch Raum blieb für Stimmungen. Als Inspiration ebenso wichtig waren die Londoner Künstler Gilbert & George, die in jenen Jahren als lebende Skulpturen auftraten, als "living sculptures". Sie ernannten sich in ihren Performances selbst zum Kunstwerk. Kunst und Alltag sind bei ihnen untrennbar miteinander verbunden.

Kraftwerk achteten stets darauf, die Musik in eine Erzählung einzubetten. Sie handelt von seltsamen Ingenieuren aus Deutschland, die die 168-Stunden-Woche eingeführt haben, immer in Bewegung sind und nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden. Sie werkeln an ihrer eigenen Abschaffung, der Urheber soll überflüssig werden, sein Werk erneuert sich von selbst: Er stößt bloß an, die daraus resultierende Bewegung dauert ewig. Später traten sie nicht mehr selbst auf, sondern schickten Roboter mit ihren Konterfeis auf die Bühne. Sie gaben dem Konzept der Mensch-Maschine eine Ikonographie, die überall verstanden wurde.

Die besten Stücke Kraftwerks sind so angelegt, dass sie ewig laufen könnten, in Schleife und ohne Ende: "Autobahn", "Trans Europa Express", "Tour de France", "Music Non Stop". Sie kreisen ohne Unterlass um sich selbst, nur die Begrenztheit des Mediums LP gibt ihnen ein Maß. So gelingt Kraftwerk etwas Neues: Sie heben die Zeit auf, und das im Pop, der doch wie keine andere Kunstform ans Jetzt gebunden ist, an den Moment. "Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen", heißt es 1986 in dem Stück "Techno Pop".

August 2012: Kraftwerk spenden Zürich "Energie"
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August 2012: Kraftwerk spenden Zürich "Energie"

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Die größte Tat von Kraftwerk ist dabei die Platte "Trans Europa Express" aus dem Jahr 1977. Spuren dieser Kompositionen findet man in jedem besseren Technostück. Lakonische Raps, elegantes Stampfen. Die Töne werden in der puren Form dargereicht, man kann diese Stücke nicht weiter komprimieren, das ist die reine Effizienz, die Essenz des Sounds. Dieses Album hat bei aller Klarheit und Verständlichkeit Spannung, es wirkt entschlossen und dabei doch wehmütig, das macht es so anregend. Das Stück "Metall auf Metall" gehört zu den wohl meistzitierten Kompositionen der elektronischen Musik. Ein Höhepunkt der Platte ist "Europa Endlos", ein einfacher Song mit lieblicher Atmosphäre und fein austarierter Melodienmechanik. Sentiment und Zukunftsvision. Er wurde zur Blaupause für den Synthie-Pop von Bands wie OMD.

In den späten Kompositionen Kraftwerks, in "Die Mensch-Maschine" (1978) und "Computerwelt" (1981), sind alle Wachträume enthalten, die den Menschen umtreiben, seit er modern wurde: die technokratische Unterwerfung, die Herrschaft künstlicher Wesen und die rasant wachsende Mobilität in Zeit und Raum. Völlig verkannt wurde bei Erscheinen das Album "Electric Café" (1986). Dabei ist es das heimliche Meisterwerk Kraftwerks. Das Prinzip der Wiederholung wurde auf die Spitze getrieben, die Sounds wurden mehrfach destilliert, die Abstraktion überschreitet die Grenzen dessen, was man damals begreifen konnte. Diese Platte ist so radikal und wagemutig, dass man sie erst zehn Jahre nach Veröffentlichung als zeitgenössisch wahrnehmen mochte. Sie ist Bezugspunkt für den Minimal-Techno und für einen großen Teil der Musiken unserer Zeit.

Wenn man gefragt würde, was genau Kraftwerk eigentlich erfunden haben, könnte man dieses antworten: die Gegenwart.

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