Ein Jahr ohne Live-Auftritte Warum wir endlich wieder Konzerte brauchen

Analyse | Düsseldorf · Im perfekten Konzert wird das Publikum zu einer idealen Gemeinschaft. Man steht plötzlich im Plural da. Das macht Erlebnisse wie die Stones in Düsseldorf und Prince in Köln unvergesslich. Eine persönliche Erinnerung.

 Die Rolling Stones 2014 in Düsseldorf.

Die Rolling Stones 2014 in Düsseldorf.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Zum Beispiel der 19. Juni 2014. Die Bühne der Düsseldorfer Esprit-Arena ist dunkel, das Konzert der Rolling Stones fast zu Ende, doch dann zucken Flammen über die Leinwände. Natürlich ahnt man, was folgt, das sardonische Trommel-Intro kündigt es an. Mick Jagger steht einfach da, man weiß nicht, woher er gekommen ist und wann. Er trägt einen pechschwarzen Feder-Umhang, der bis zum Boden reicht. Ein Lichtspot ist auf sein Gesicht gerichtet, und dieser Jahrhundert-Mund zischt die berühmten Worte, die dem Zuhörer langsam vom Bauch aus über den Rücken krabbeln, bevor sie sich in den Ohren festkrallen: „Please allow me to introduce myself / I’m a man of wealth and taste“. 45.000 Menschen nicken, „Sympathy For The Devil“, der Gral. Und die meisten rufen, was man in diesem Moment nun mal ruft: „U-uh!“

Seit einem Jahr hat es – bis auf wenige Ausnahmen – keine großen Live-Konzerte mit Publikum gegeben. Die Branche steht quasi still, viele Menschen fürchten um ihre Existenz, manche arbeiten längst in anderen Bereichen. Und wie es aussieht, wird auch dieses Konzertjahr ausfallen. Die meisten Künstler haben Tourneen, die 2020 stattfinden sollten, bereits auf 2022 verschoben. Es wird dauern, bis man endlich wieder im Plural dastehen darf.

Große Popkonzerte sind etwas Magisches. Es beginnt mit der Anreise. Die Halle wirkt wie ein Magnet, der die Menschen aus den S-Bahnen zieht. Aufregung und Anspannung verdichten sich mit jeden Schritt, und der Moment, in dem kurz vor Beginn eines Auftritts das Licht ausgeht, ist das Allerherrlichste: Alles scheint möglich, und noch die unangemessenste Vorfreude könnte erfüllt werden.

Das perfekte Konzert ist nicht unbedingt das, bei dem die Stars besonders toll spielen. Sondern das, in dem man gleichsam in der Musik steht und in ihr lebt. Das, in dem man selbst Musik ist. Man hört mit dem Körper. Sieht, wie andere bewegt werden. Wird mit Tausenden zu einer idealen Gemeinschaft, die außerhalb der Zeit friedlich die Trance des Genießens zelebriert. Irgendwann wacht man kurz auf, weil jemand vorbei will, um sich ein Bier zu holen.

Zum Beispiel der 11. Juli 2002. Sonic Youth treten im E-Werk in Köln auf. Mitten im Konzert gibt es einen längeren Instrumentalteil. Fünf Minuten? 15 Minuten oder 50? Zwei Gitarren produzieren einen solch wunderbaren Lärm, dass man sich wie unter Wasser fühlt, wie in Zeitlupe. Es ist, als stehe die Zeit still, und man sieht sich um und blickt auf knutschende Paare, abwesende Anwesende, glückliche Hörende. Man sieht den Song, denn diese Menschen hier sind in diesem Moment der Song.

Ein Konzert ist einmalig, selbst wenn es aufgezeichnet wird. Die beste Technik nützt nichts: Konzerte muss man mit allen Sinnen und in schwitzendem 3D erleben. Dafür ragen Konzerte aus dem Strom der ereignislos verstrichenen Tage heraus. Ein gutes Konzert vergisst man nicht. Die zweieinhalb Stunden bei den Stones werden von Mick und Keith in Bernstein gegossen. Den Bernstein bekommt man am Ausgang in die Hand gedrückt, man hat ein Leben lang etwas davon. Wenn man später eine Person trifft, auf einer Party etwa, die davon erzählt, dass sie damals in Düsseldorf bei den Stones gewesen ist, und man ihr natürlich gleich ins Wort fällt und ruft: „Ey, ich auch!“, hat man eine neue Freundin oder einen neuen Freund. Oder doch zumindest einen Gesprächspartner: „Und wo warst Du noch so?“

Wir werden in Schwingung versetzt von Musik. Der Soziologe Hartmut Rosa schreibt in seinem Buch „Resonanz“ über Rock- und Popkonzerte: „Nichts anderes scheint eine vergleichbare physisch wirksame Qualität zur alltäglichen Vermittlung und Heilung subjektiver Weltverhältnisse zu besitzen.“ Das ziehe sich durch alle Gesellschaftsschichten: Musik sei das „universelle Bindemittel für das spätmoderne Weltverhältnis“, meint Rosa. „Das Musik-Erleben hebt die Trennung zwischen Selbst und Welt auf.“ Und: „Erst wenn wir von Musik nicht mehr berührt, bewegt oder ergriffen werden, erleben wir Entfremdung oder, im Steigerungsfalle, Depression, weil uns dann die Welt stumm wird, auch wenn sie noch so laut ist.“

Diese Berührung fehlt uns jetzt. Das miteinander Denken in einem Raum, das Teilen und Mitteilen einer musikalischen Erfahrung. Die Gemeinschaft des Erlebens. Das Wir im Sound.

Zum Beispiel der 28. Juli 2011. Prince kommt arg verspätet auf die Bühne der Lanxess Arena, spielt einen Song und verschwindet wieder. 40 Minuten tut sich nichts, angeblich sei der Meister mit dem Sound unzufrieden. Als er wieder auftaucht, spielt er unendliche und wütende Gitarrensoli und ruft mehrfach „Soundcheck!“. Er rockt „Kiss“ und „Purple Rain“ in leicht wahnsinnigen, aber irgendwie auch total tollen Versionen herunter, und dann ist er wieder weg. Feuerzeuge und Bierbecher fliegen. Irrer Abend, und als Prince starb, dachte man: Dieser gemeinsame Moment, den hatten wir.

Bevor es wieder losgeht, und es wird wieder losgehen, bleibt also immerhin die Erinnerung. Ein Bekannter führt eine Excel-Tabelle mit allen Konzerten, die er je besuchte. Es sind mehr als 700. Diese Liste ist seine Versicherung, dass er nie Langeweile haben wird. Er schaut einfach drauf, denkt an die Stones in Düsseldorf, an Sonic Youth in Köln oder Prince in Rage und flüstert: „I’m a man of wealth and taste.“

U-uh.

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