Interview mit John-Lennon-Double „Die Beatles waren Influencer“

LIVERPOOL/OSNABRÜCK · Das deutsche John-Lennon-Double Johnny Silver spricht über das Phänomen „Beatles“ und die Vielschichtigkeit des exzentrischen Lennon.

  Unheimliche Ähnlichkeit: Johnny Silver und John Lennon.

Unheimliche Ähnlichkeit: Johnny Silver und John Lennon.

Foto: Foto: Johnny Silver

Im Jahr 1960 legte sich eine Merseybeat-Band aus dem nordenglischen Liverpool fest: Sie nannte sich ab August jenes Jahres „The Beatles“ und eroberte fortan die Welt mit ihrer Musik. John Lennon, der im Dezember 1980 von Marc David Chapman vor seinem Haus in New York erschossen wurde, wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden.

John-Lennon-Double Johnny Silver erklärt im Interview, warum die Musik der Beatles bis heute fasziniert und welche Rolle Hamburg für die Band spielte, er spricht über die Vielschichtigkeit der Figur John Lennon und erklärt, warum dessen Song „Imagine“ das in der Corona-Krise meistgespielte Lied ist.

Herr Silver, 2019 kam der Film „Yesterday“ ins Kino. Da gab es eine Welt ohne die Beatles. Kann es so etwas geben?

Silver Nein, es ist unmöglich. Die Beatles haben die Pop-Kultur und die Jugendkultur nachhaltig geprägt. Ohne die Beatles sähe unsere Welt anders aus. Sie haben einiges über den Haufen geworfen und umgekrempelt. Sie sind der Prototyp einer Band.

Was macht die Beatles so besonders?

Silver Sie haben viele Sachen neu definiert. Das Format war neu: eine Vier-Mann-Besetzung mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, die gleichzeitig singt mit verschiedenen Solo-Sängern und Chorgesängen. Die Beatles haben sich von Album zu Album weiterentwickelt und haben immer versucht, sich neu zu erfinden. Zum anderen haben sie als mehr oder weniger erste Band ihre Videos quasi als Promotion-Filme auf Tournee geschickt, um zu Hause bleiben zu können und im Studio kreativ zu sein. Sie haben außerdem als erste Band Liedtexte auf ihrem Plattencover abgedruckt. Es gibt es eine Vielzahl von Novitäten.

Die Beatles haben also nicht nur die Musik geprägt, sondern auch das Musik-Business neu erfunden?

Silver Das kann man sagen. Sie haben eine eigene Kultur geschaffen, heute würde man sagen: Sie waren Influencer. Ihre Fans hatten ihre Poster an der Wand, haben ihre Haarschnitte kopiert und ihre Mode übernommen, den Beatles-Look, den die selbst zusammengestellt hatten. Denken Sie an die Beatles-Boots mit Gummizug oder Reißverschluss und kubanischem Absatz, dazu Röhrenhosen. Sie haben viele Sachen kombiniert – aus dem Spanischen, aus dem Französischen – und haben daraus einen Lifestyle gemacht. Und dieser Lifestyle hat sich mit ihrer Musik stetig verändert. Erst war es die Beat-Mode mit Mop-Top-Haarschnitten, danach haben sie Bärte getragen, längere Haare, bunte Hippie-Sachen. Sie hatten eine eigene Modeboutique und ein eigenes Label, ihre eigene Filmgesellschaft, ihre eigenen Plattenfirmen und Modelabel, ihr eigenes Elektronic-Label. Die Beatles waren eine eigene Industrie.

Was ist das Geheimnis der Musik der Beatles?

Silver Sie haben den Leuten aus der Seele gesprochen. Die Jugendlichen haben gesagt: Das ist unsere Musik, unsere Emotionalität, wir sind jugendlich, uns gehört die Welt, wir können etwas verändern. Das Gefühl, das die Musik transportiert, ist das, was es besonders macht. Nehmen wir den Song „Yeah! Yeah! Yeah!“ – der hat einfach dermaßen das Lebensgefühl der Zeit widergespiegelt, das haben die Kids in anderer Musik so nicht finden können.

Das „Yeah! Yeah! Yeah!“ hätte auch noch eine andere Karriere haben können. Der Song war die Stadionhymne des FC Liverpool, bevor „You´ll never walk alone“ kam. Wie kam es dazu?

Silver Die Liverpooler sind ein sehr treues Volk, was ihre Heroes angeht. Entsprechend werden die Heroes getragen. Vor den Beatles gab es in Liverpool tolle Fußballer, aber keine Musikinterpreten, die es in die Charts in England und woanders in der Welt geschafft hatten. Die Liverpooler waren sehr stolz auf ihre eigene Band. 1963, nachdem die Beatles auch in den Charts auf Nr. 1 waren, hat dann das ganze Stadion „Yeah! Yeah! Yeah!“ gesungen. Das muss phantastisch gewesen sein. Trotzdem wurde es von Gerry and the Pacemakers und „You´ll never walk alone“ abgelöst. Warum das passiert ist, darüber gibt es viele Thesen.

Es gibt aber nicht nur den FC Liverpool, sondern auch den FC Everton.

Silver Dem haben die Beatles Rechnung getragen mit ihrem Blauen und Roten Album. Blau steht für die „Blues“, Everton, und Rot für die „Reds“, den FC Liverpool.

Wären die Beatles ohne Liverpool denkbar gewesen?

Silver Die Beatles wurden durch Liverpool nachhaltig geprägt, genauso wie durch Hamburg. Liverpool und Hamburg sind sehr vergleichbare Städte in ihrer Emotionalität, ihrer Rauheit, auch in ihrer Liebenswürdigkeit. Die Beatles hatten einen besonderen Humor, der sehr frech war und Autoritäten verneinte, das kam natürlich gerade bei jungen Leuten gut an. Es war nicht anarchistisch, aber es war auf jeden Fall frech. Frech liebenswürdig und in dieser nördlichen, rauen und charmanten Art, und das haben die Beatles auch in die ganze Welt gebracht. Sie waren nicht so aalglatt, wie vieles, was aus London kam. Dadurch waren sie ursprünglicher und echter. Es war leichter, sich damit zu identifizieren und zu sagen, das ist unsere Sprache, das ist nicht gekünstelt und nicht hübsch ausgedrückt, das ist einfach gerade weg rausgehauen.

Hamburg, die Reeperbahn, war der Startpunkt der Beatles?

Silver Ganz genau. Der Beatles-Manager Allan Wiliams der die Band nach Hamburg brachte, erzählte mir mal, dass die Beatles erst in Hamburg nicht nur zu Männern, sondern auch zu Musikern geworden sind. Die Reeperbahn war unvorstellbar für damalige Verhältnisse, was die Freiheit und den Kulturbetrieb anging: Musik, Rock´n‘Roll, Sex und Drogen. Zudem die Seeleute, die sich ihre Stücke wünschten. Das hat das Programm der Beatles wesentlich erweitert. Es ging kernig zu, sie haben teilweise bis zu acht Stunden auf der Bühne gestanden. Man kann sagen: Dort sind sie als Band erst richtig erwachsen geworden. Als sie dann nach England zurückkehrten, hieß es: Das sind die Beatles direkt aus Hamburg. Die Leute dachten zuerst, es sei eine deutsche Band und waren zuerst schockiert, wie laut und gut sie spielten. Zusammengefasst: Im ersten Beatles-Hamburg-Jahr 1960 wurden sie eigentlich erst zu einer richtig guten Band.

Nun kann man sich John Lennon in diesem ganzen Kontext Reeperbahn als Typ fast gar nicht vorstellen in seiner teilweise pastoralen und später Christus-artigen Gestalt?

Silver Lennon war damals ein junger Bursche, der immer noch unter den frühen Tod seiner Mutter litt und versuchte, darüber hinwegzukommen. Er ließ nicht seine direkten Gefühle raus, sondern er versuchte, sie in Rock´n‘Roll zu transformieren, in eine Art von Frechheit, um mit dem Verlust klar zu kommen. John und die Beatles anderen wurden in Hamburg zu Männern. Lennon hatte sich, als er in Hamburg war, wohl gefühlt, es war das Leben, was er sich eigentlich erträumt hatte. Es ging um Musik, es ging um Mädels und es ging um Freiheit, darum, sich selber entfalten zu können. Dann wurde er im Laufe der Jahre milder und milder. Natürlich liegen Welten zwischen dem John Lennon, der sich mit zwanzig Jahren in Hamburg postpubertär verhielt, und einem geläuterten und reiferen Lennon der Siebzigerjahre, der mehrere Leben gelebt hatte in einer sehr kurzen Zeitspanne, der auch vom Kopf her sehr schnell gealtert ist. Er konnte aber auch, nachdem er eine Therapie gemacht und den Drogenentzug durchlebt hatte, ganz anders aufleben und ganz andere Texte schreiben, als in der Zeit, in der er jung war.

Wenn man John-Lennon-Darsteller ist, welcher John Lennon ist der, der Ihnen am Nächsten ist?

Silver Ich selber mag Lennon, weil er so vielschichtig ist. Ich mag nicht immer nur eine Art von Musik, sondern passe die Musik, die ich höre, meiner Stimmung an. Ich bin genauso ein Rock´n‘Roll-Fan wie ich auch anspruchsvollere Texte mag, die sehr emotional und gefühlvoll sind, die sogar philosophisch anmuten. Da bietet John Lennon sehr viel an. Er war ein sehr widersprüchlicher Charakter, der viele Facetten hatte: Er war ein künstlerischer Typ, er war ein Rock‘n‘Roller, er war Buchschreiber, er zeichnete, machte Avantgarde-Kunst und auch akustische Popsongs. Die Bandbreite macht es. Wie bei der gesamten Band.

Hatte Lennon die Hauptrolle bei den Beatles?

Silver Er war in den ersten Jahren der Anführer, weil er die Band gegründet hat und auch die treibende Kraft war. Als er den Zenit des Erfolgs erreicht hatte, wurde er sehr relaxt und sagte, er wolle eigentlich kein Beatle mehr sein. Paul McCartney übernahm das Steuer der Band und nachdem auch der Manager der Band einige Monate später starb, war klar, dass Paul McCartney die Band zusammenhielt. Es war eine Art von Trainerwechsel. McCartney war dann die treibende Kraft hinter Filmen und LPs. Sonst hätte sich die Band womöglich schon 1966 aufgelöst.

John Lennon gehört ja zu den Künstlern, die ja ein recht kurzes Leben hatten. Wie wäre der alte John Lennon gewesen? Es gibt ja diesem Film „Yesterday“ die Szene, wo der alte John Lennon plötzlich auftaucht. Kann man sich so etwas vorstellen?

Silver Wenn wir alle auf unser Leben zurückschauen, egal, ob es ein kurzes oder langes Leben war, dann merkt man: Es gibt immer Veränderungen und Phasen. John und Paul waren sich eine Zeit lang nicht mehr grün. 1979/80 fand wieder eine Annäherung statt, so dass es gar nicht mehr so abwegig gewesen wäre, dass beide noch einmal zusammen Stücke geschrieben hätten und sogar eine gemeinsame Tour gemacht hätten. Vielleicht nicht unter dem Namen The Beatles, sondern unter einem anderen Namen. Man weiß es nicht. John selbst hatte für 1981 eine Solo-Tournee geplant. Wie er sich entwickelt hätte, weiß ich nicht, aber ich denke er war der Rolle leid, allein Familienvater zu sein. Sein Kind aufzuziehen, das war für ihn wichtig, aber er wollte 1979/80 wieder ins Rampenlicht zurückkehren. Wir hätten noch einiges erwarten können, er war noch nicht fertig. Songtitel wie ,Life begins with 40‘ haben das auch ausgedrückt. Er hatte noch vieles vorgehabt und in Planung und das wurde einfach jäh unterbrochen.

Kann man ein Beatles-Album als das größte herausstellen?

Silver Schwer zu sagen. Ich teile da die Meinung vieler Beatles-Fans, die sagen, je nach Lust und Laune und nach Tageszeit und Stimmung wähle ich das eine oder andere Album aus. Ich finde persönlich das zweite Album „With the Beatles“ sehr stark, weil es purer Mersey-Beat ist. Es war die typische Beatles-Scheibe. Meine zweite Lieblingsplatte ist „Abbey Road“, weil sie so perfekt ist. Sie klingt fantastisch, es sind tolle Stücke drauf, ich höre eine Band, die sich entwickelt hat und die eigentlich alle Bereiche, die sich im Laufe der Karriere so perfektioniert hat, da noch mal zum Besten gibt. Ich würde zwischen diesen beiden Platten hin und her springen. Einmal ein Frühwerk, einmal ein Spätwerk.

Viele Fans sagen, es gibt einen Schnitt im Werk der Beatles.

Silver Richtig, seltsamerweise machen viele Beatles-Fans einen Schnitt und sagen: „Ich mag eher die Rock‘n‘Roll und Merseybeat-Beatles bis 1966, Sergant Pepper war mir zu abgefahren.“ Andere sagen: „Da wurden die Beatles erst progressiv und interessant, da waren sie nicht mehr so Teenagerpop-mäßig.“ Und es gibt die, die immer alles mitverfolgt haben und immer Fan geblieben sind.

Ein kleiner Exkurs: Wie wird man dann Double von John Lennon?

Silver Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Dort gab es einen Musiker, Thomas, der auch ein riesengroßer Beatles-Fan war. Wir haben zusammen gesungen. Thomas sagte mir, ich solle eine tiefere zweite Stimme versuchen und dann haben wir zweistimmig wie Paul und John gesungen. Das klappte auf Anhieb gut, weil wir beide diese Stücke mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Ich merkte, dass ich besser die Lennon-Stücke singen kann. Ich habe meine Anlagen, die mir von Gott auf den Weg gegeben wurden, entwickelt, habe dann noch mehr Stücke gelernt und mir die entsprechenden Leute zusammengesucht, die auch möglichst original Musik spielen wollten.

Wenn man John Lennon darstellt oder immer wieder singt, wie viel John Lennon ist dann in einem drin?

Silver Ich leide ich nicht an einer Persönlichkeitsstörung, ich kann also schon sehr gut differenzieren, wer wer ist. Aber man liebt einfach den Geist der Stücke. Man versucht diesen möglichst dann, wenn man den Song performt, aufleben zu lassen. Ich versuche, viel Herzblut reinzulegen und genau hinzuhören, was Lennon eigentlich ausdrücken wollte. Was waren die Lyrics? Was war sein Anliegen und in welcher Stimmung hat er das Stück gesungen? Das zu übertragen macht den Reiz für mich aus. Wenn das Publikum das wiedererkennt und meine Stimmung aufgenommen wird, habe ich mein Ziel erreicht. So gesehen ist es erst einmal ein wesentlicher Punkt für mich als Künstler, diese Stimmung möglichst originalgetreu wiederzugeben und zu übertragen. Zum anderen habe ich, das gebe ich zu, einige Charaktereigenschaften, die Lennon sehr ähnlich sind. Ich hatte auch ein paar Probleme in meiner Kindheit, ich bin auch ein sehr sensibler Typ, andererseits aber auch sehr rebellisch. Das hat es mir leichter gemacht, mich in die verschiedenen Lebensphasen und Musikstile von John Lennon einzufühlen. Ich verstehe ihn, um es mal so zu sagen. Ich verstehe seine Musik, sie ist mir nah.

Verbinden die Beatles musikalisch Generationen?

Silver In England sind Beatles ein Kulturgut. Die Leute dort sagen, das sind unsere Beatles, das sind unsere Roots. Daher kommen wir und das ist unsere Tradition der Popmusik. Ich denke, dass es auch in Deutschland heutzutage viele junge Fans gibt, allerdings ist es mittlerweile etwas uncool geworden, alte Musik zu hören, die anderen ästhetischen Regeln folgt, als die, die heutzutage die Rap- und Hip Hop-Musik hat. Es ist einfach etwas Anderes. Aber ich erlebe nach wie vor auch Jugendliche, die die Musik entdecken und sehen, dass vieles, was heutzutage läuft, in den Beatles begründet ist. Ich kann nicht mal sagen, dass die Beatles jetzt meine aktuelle Musik sind. Es ist einfach eine Art von klassische Musik, nicht klassisch im Sinne von Orchestermusik mit den alten Meistern, sondern klassische Popmusik. Der Wert der Beatles kann nicht hoch genug gehalten werden: Sie sind die wichtigste Pop-Band aller Zeiten.

Lennons Song „Imagine“ ist während der Corona-Krise das meist gespielte Lied. Warum?

Silver Dass der Song, den Lennon angeregt von einem Kunstbuch von Yoko Ono geschrieben hat, so populär ist und zu einer Corona-Hymne avanciert ist, zeigt, dass vieles durch Corona auch möglich wird, was Menschlichkeit und Mitgefühl angeht. „The World will be as one“ hat Lennon in seinem Text geschrieben. Das heißt: Wir können nicht sagen, hier hören unsere Gedanken auf, wir müssen einfach global denken. Nicht im Sinne von Globalisierung, sondern uns Menschen als Gesamtheit sehen. Man sieht ja auch, wenn wir uns alle einschränken: Wir sind weniger mit Autos unterwegs und schleudern somit weniger Abgase in die Welt, was die Welt gesunden lässt. Delphine schwimmen in Venedig, Wasser und Luft werden wieder klarer. Wenn wir uns an dem Text orientieren, den John Lennon bei „Imagine“ geschrieben hat, merken wir, dass wir eine unheimliche Macht haben, das Leben wieder für alle erträglicher zu machen. „Imagine“ ist einfach der passende Song in dieser Zeit.

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