„Selig“-Sänger Jan Plewka „Eigentlich läuft alles falsch, und zwar schon lange“

Plötzlich ist der ehemalige Grunge-Rocker Jan Plewka 50 Jahre alt. Ein Gespräch über „Fridays for Future“, die Wiederauferstehung seiner Band „Selig“, das Kennenlernenmüssen der eigenen Familie und unbezahlbare Notizzettel.

 Jan Plewka.

Jan Plewka.

Foto: Sven Sindt

Herr Plewka, das achte Selig-Album heißt „Myriaden“. Das steht für eine unzählbare Menge. Was bedeutet es denn in Eurem Zusammenhang?

Jan Plewka: Myriaden bezieht sich auf die unzählbaren Bildschirme, die es gerade auf unserem Planeten gibt. Du musst nur die Augen schließen und darüber nachdenken, wie viele Bildschirme jetzt aktiv sind, dann kannst du sie nicht mehr zählen. Diese Bildschirm-Sucht entführt uns alle aus dem Sinnlichen und lenkt ab von dem Wesentlichen, von dem Momentum. Hinter diesen Bildschirmen gibt es weder Zukunft noch Vergangenheit, und auch keine Gegenwart. Es ist alles außerhalb dieser Welt und entführt uns aus der lebendigen Wirklichkeit. Dieses Lied ist eine Metapher von zwei Menschen, die aneinander vorbeigehen und sich nicht mehr finden können. Das Wort Myriaden als solches ist auch interessant. Es ist ein schöner, mystischer Ausdruck von Unendlichkeit.

Die Platte, die am 13. März erscheint, soll ein Aufruf für mehr Miteinander sein. Wie konkret soll das aussehen?

Plewka: In jedem Lied geht es darum, wie wir miteinander umgehen. Dies Platte ist ein großer Liebesbrief an den Planeten, auf dem wir weilen. Da ist eine Hoffnung, an die Menschen, dass wir es doch schaffen weiterzukommen.

Es ist ein sehr politisches Album. Auch Corona geschuldet?

Plewka: Nö. Es ist politisch auf selige Art und Weise. Wir sind inzwischen alle Familienväter, und als unsere Kinder von den Fridays-for-Future-Demos kamen und zu Hause Diskussionen ausgelöst wurden, da hat sich das alles in den Proberaum getragen.

Was läuft im Moment mehr falsch als richtig?

Plewka: Es läuft eigentlich alles falsch. Und zwar schon lange. Ich bin einmal zum Kühlschrank gegangen und holte ein Stück Käse raus, nahm ihn aus der Plastik-Verpackung und warf diese in eine Plastiktüte. Dann habe ich in der Stadt die Autos im Stau gesehen, wo jeder genervt in seinem Riesen-Wagen sitzt und die Luft verpestet. Das ist alles falsch. Wir haben eine Abzweigung verpasst. Jetzt geht es darum es noch hinzukriegen, dass es nicht zur Voll-Katastrophe kommt.

Das klingt sehr ernüchternd.

Plewka: Also diese Pandemie, die wir gerade haben, kommt ja nicht von ungefähr. Je mehr wir den Lebensraum der Tiere beschneiden, desto mehr kommen die Pandemien in kürzeren Intervallen. Der Schuss vor den Bug, den wir jetzt mit Corona gekriegt haben, sorgt hoffentlich dafür, dass viele Leute in sich gehen und die Zusammenhänge erkennen. Und dass man gar nicht so viel braucht, wie einem vorgegaukelt wird.

Wie haben Sie mit Ihrer Band die Krise bisher bewerkstelligt?

Plewka: Wir konnten zum Glück während des ersten Lockdowns im Studio sein und uns auf das neue Album konzentrieren, weil es keine Ablenkung gab. Jetzt drehen wir ein Video nach dem anderen, promoten die Platte und schauen auf die Live-Termine, die immer wieder verschoben werden. Wir ziehen uns etwas zurück, um unsere Familien kennenzulernen, um uns weiterzuentwickeln und pflegen unsere Instrumente. Wir versuchen auch ruhiger zu werden. Und wir haben einen Selig-Wein rausgebracht, einen schönen Grau-Burgunder. Das ist kein Merch-Witz, der schmeckt richtig gut. Achja, wir freuen uns natürlich sehr auf unsere beiden Streaming-Konzerte in Bremen (13.März) und Hamburg (6.Mai).

Haben Sie gerade gesagt, Sie müssen Ihre eigenen Familien kennenlernen?

Plewka: Ich kann da nur für mich sprechen: Ich war immer nur unterwegs. Entweder mit „Between The Bars“ oder der „Heilsarmee“ oder mit Selig. Ich war mehr auf der Bühne als im Bett. Und wenn ich dann mal zu Hause war, waren das immer sehr intensive Tage, aber dann musste ich auch gleich wieder los. Jetzt ist es so, dass ich daheim sein kann. Nachdem ich aus Südafrika kam, wo ich für „Sing meinen Song“ war, ging der Lockdown los – und seitdem hänge ich zu Hause rum. Am Anfang fühlte ich mich wie im Loriot-Film „Pappa ante portas", dann kam die große Krise, weil ich dachte, ich könne nie wieder arbeiten. Dann habe ich angefangen die Schätze zu entdecken, wie alte Bücher, die um mich herum schlummern. Außerdem: Was gibt es Schöneres als mit seinen Kindern rumzuhängen?

Die Single „SMS K.O.“ ist unendlich traurig und handelt von Trennungsschmerz. Haben Sie da selbst Erlebtes verarbeitet?

Plewka: Nein. Mit meiner Frau ist alles okay. Aber es macht ja gerade Spaß, wenn es einen nicht persönlich betrifft und man dann in die große Pathos-Kiste greifen und das als Geschichte erzählen kann. Das ist auch eine Metapher dafür. wie die Sinnlichkeit verloren geht. Man hat nicht mal mehr Zeit mit einem Brief Schluss zu machen, sondern nur durch eine Whatsapp. Das ist ein tolles Thema, um da mal richtig reinzugrätschen.

Sie haben auch gesagt „Es ist ein Versuch aufrichtig zu sein in unserer unaufrichtigen Zeit“. Wie aufrichtig sind Sie in dieser Coronakrise?

Plewka: Ich versuche so aufrichtig wie möglich zu sein, vor allem zu mir selbst. Wenn man offen und ehrlich zu sich selbst ist, die Ruhe findet und sich nicht mehr ablenken lässt von dieser ganzen Panikmache und von der Raserei um einen herum trotz Stillstand, dann findet man ganz viel. Und das strahlt man auch aus. Dann kann man auch aufrichtig durch die Welt gehen.

Am neuen Album wurde zwei Jahre gearbeitet, insgesamt 96 Songs sind entstanden. Wie kommen so viele Lieder zusammen, von denen am Ende dann rund zwölf nur den Weg auf die Platte finden?

Plewka: Das ist die Magie, die dahinter steckt. Songs entstehen beim Jammen. Bei dem einen Song hat man ein gutes Gefühl, bei dem anderen auch, dann spielt die Zeit noch mit und es kommt etwas anderes dazu. Zum Schluss hat man eine Riesen-Sammlung an wundervollen Momenten und Liedern. Dann hört man sich alle an und entscheidet in einer Diskussion. Am Ende haben wir uns entschieden auf Inhalte zu gehen.

Es ist das achte Album und Ihre Reunion von „Selig“ liegt schon zwölf Jahre zurück. Ist Selig immer noch total happy zusammen oder müssen die Fans Angst haben, dass von einer zweiten Trennung wie 1999 gesprochen wird?

Plewka: Selig-Platten wird es bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter geben. Das hört nicht mehr auf.

Sie waren bei der letzten Staffel von „Sing meinen Song“ und hatten dort viel Spaß. Haben Sie das aus Überzeugung gemacht oder wegen des Geldes?

Plewka: So viel Geld gibt es da gar nicht. Das war vor allem Promotion für uns. Am Anfang dachte ich ‚Oh Mann, da stehst du da als Aktivist auf der Bühne und predigst die Revolution und fliegst nach Südafrika – und bin ich nicht angetreten, um Sinn in die Welt zu geben?', aber dann sind wir uns auf Augenhöhe begegnet und konnten so natürlich wie nur möglich sein. Dieses Miteinander mit den anderen war so toll, das möchte ich in meinem Leben nicht missen. Wir sind echt Freunde geworden. Jeder sah in den Augen des Anderen einen 14-jährigen Menschen, der irgendwann mal angefangen hat Musik zu machen, weil er das braucht. Das waren ganz tolle Tage, die wie im Flug vergangen sind.

Werden Sie das noch mal machen oder war das eine einmalige Sache?

Plewka: Ich würde es jederzeit wieder machen.

Auf der neuen Platte gibt es den Song „So lange gewartet“. ist das die erwachsene Version von „Ohne Dich“?

Plewka: (lacht) Ja genau, das sage ich immer. Als das Lied fertig war, saßen Leo (Bassist Leo Schmidthals, d. Red.) und ich vor den Boxen und wir haben geheult wie die Schlosshunde. „Das ist so traurig“, sagten wir beide. Das ist unser „Ohne Dich“ als Erwachsene.

Sie haben daheim eine große Bücherwand mit unzähligen Ideen. Sie sagten, wenn ihr Haus mal brennen würde, würden Sie zuerst Ihre Notizzettel retten...?

Plewka: Nach den Kindern und meiner Frau, ja. Da sammeln sich Bücher und Notizen von meinem neunten Lebensjahr bis heute. Diese Wand ist kunterbunt. Es ist immer wieder ein großes Vergnügen da rein zu greifen und irgendein Buch aufzuschlagen. Es gibt darin Zeilen, die mich einfach inspiriert haben. Einfach wunderbar.

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