Forscherin Sina Nitzsche im Interview Hip-Hop als Wissenschaft

Düsseldorf · Sina Nitzsche hat an der Technischen Universität Dortmund ein Zentrum der europäischen Hip-Hop-Forschung gegründet. Ein Interview über Gangsta-Rap, Jugendkultur und ungewöhnliche Forschungsziele.

 Sina Nitzsche ist Hip-Hop-Forscherin und untersucht mit ihren Studenten unter anderem die kulturelle Bedeutung von Rap.

Sina Nitzsche ist Hip-Hop-Forscherin und untersucht mit ihren Studenten unter anderem die kulturelle Bedeutung von Rap.

Foto: Sina Nitzsche

Mehr als nur Gangsta-Rap: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Hip-Hop-Kultur hat sich an vielen Universitäten in Europa zu einem wichtigen Bereich entwickelt. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen versuchen aus dieser Popkultur wichtige gesellschaftliche und kulturelle Erkenntnisse zu gewinnen. Eine von ihnen ist Sina Nitzsche. Sie gründete im März an der TU Dortmund das europäische Hip-Hop-Studies-Netzwerk.

Hip-Hop-Studies, was ist das für ein Forschungsfeld?

Nitzsche Hip-Hop-Studies ist ein interdisziplinärer Forschungszweig, der die Hip-Hop-Kultur in allen ihren globalen und lokalen Ausprägungen erforscht. In ihrem Gründungsmythos in den 1970er Jahren in der New Yorker Bronx geht die Kultur auf die vier Kernelemente Rap, DJ-ing, MC-ing, Graffiti und Tanz zurück. Bildung ist für manche auch ein Element, denn es gibt den Ansatz im Hip-Hop des „Each one, teach one.“ Hip-Hop-Studies sind keine konkrete Disziplin. Sie sind vor allem interdisziplinär. Auf den Konferenzen gibt es immer einen bunten Blumenstrauß aus Soziologen, Musikwissenschaftlern, Ethnografen, Geografen, Juristen, Medienwissenschaftlern, Kriminologen sowie Vertreter aus den klassischen Philologien. Ein wichtiger Teil des Austausches sind auch Künstler, Street Worker, Produzenten, Tänzer. Das macht für mich die Besonderheit dieses Forschungsfeldes aus.

Und womit beschäftigen Sie sich?

Nitzsche Ich persönlich beschäftige mich zum Beispiel mit dem Forschungsfeld der „Hip-Hop-Education“, also mit der Rolle der Hip-Hop-Kultur in der Bildung und mit insbesondere ihrer Institutionalisierung an der Universität. In den USA gibt es zum Beispiel viele Organisationen in der Jugendarbeit oder in der Erwachsenenbildung, die versuchen, mit Hip-Hop verschiedene Fähigkeiten und Werte zu vermitteln, wie zum Beispiel Soft Skills, Medien- und Unternehmer-Kompetenzen. Das ist spannend aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive.

Wie sind Sie auf das Forschungsfeld gekommen?

Nitzsche Ich habe die Hip-Hop-Kultur als Teenager in den 1990ern kennengelernt, dabei haben mich die Beats anfangs am meisten fasziniert. Als Studentin habe ich realisiert, dass man sich damit auch akademisch auseinandersetzen kann. In Chemnitz habe ich eine Hip-Hop-Konferenz mitorganisiert, das war für mich eine wichtige Erfahrung, die meine eigene Forschung bis heute inspiriert. In Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 habe ich mich mit der lokalen Ausprägung der Hip-Hop-Kultur im Ruhrgebiet beschäftigt und die Konferenz „Hip-Hop im Revier“ organisiert. Aus dieser Konferenz ist das Buch „Hip-Hop in Europe: Cultural Identities and Transnational Flows“ hervorgegangen, das bis heute einzige Buch, das Analysen über die lokalen Ausprägungen der verschiedenen Hip-Hop Kulturen Europas enthält.

Was ist das Ziel dieses Netzwerks?

Nitzsche Während der Recherche für das Buch habe ich intensiv und manchmal auch vergeblich nach Hip-Hop-Forschern in Europa gesucht und so ist das Bedürfnis entstanden, ein Netzwerk zu gründen. Wenn man in den amerikanischen Wissenschaftsdiskurs schaut, gibt es den Begriff Hip-Hop-Studies schon seit den 1990er Jahren. In Deutschland wird der Begriff weniger verwendet. Forscher identifizieren sich oftmals zuerst über ihre Fachdisziplin und dann erst im zweiten Schritt als Hip-Hop-Studies Wissenschaftler. Meine eigene Fachdisziplin ist die Amerikanistik. Erst vor zwei Jahren habe ich mich als Hip-Hop-Wissenschaftlerin „geoutet“. Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Studierende haben mir aus verschiedenen Ecken Deutschlands geschrieben, und ich habe gemerkt, dass es vielleicht Zeit ist, das Feld der Hip-Hop-Studies in den öffentlichen Diskurs einzuführen. Mit dem European Hip-Hop-Studies-Netzwerk wollen wir unter anderem ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es dieses Forschungsfeld überhaupt gibt. Das Netzwerk soll einen akademischen und künstlerischen Austausch zwischen Künstlern, Wissenschaftlern und Praktikern in Europa fördern. Ein zweites Netzwerk-Treffen findet höchstwahrscheinlich nächstes Jahr in Großbritannien statt.

Ist es denn im Sinne der Hip-Hop-Szene, Gegenstand von Wissenschaft zu sein?

Nitzsche Eine Kritik aus der Szene lautet: „Ihr sitzt in der Universität, schöpft unsere Kultur ab und profitiert mit aus ihrer Institutionalisierung.“ Einen ähnlichen Prozess hat man bereits bei der Jazz-Musik gesehen, der populären afroamerikanischen Musikkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Irgendwann hat sich Jazz abgekoppelt von der Jugend- und Protestkultur, und heute trifft man auf Jazz-Konzerten tendenziell das „weiße“ Bildungsbürgertum. Wenn man ein solches Netzwerk gründet, muss man sich diesen kulturellen Aneignungsprozessen bewusst sein sowie gegenüber den Künstlern und der Kultur kritisch respektvoll bleiben.

Wie unterrichten Sie?

Nitzsche Ich unterrichte Hip-Hop-Studies aus der Perspektive der Kulturwissenschaften, das heißt, wir analysieren kulturelle Texte, wie zum Beispiel Musikvideos, Lyrics und Filme. Ich setze dabei eigene Schwerpunkte. Letztes Jahr habe ich einen Kurs über die Hip-Hop-Kultur im Ruhrgebiet unterrichtet. In meinem Seminar „Global Bounce: Hip-Hop-Studies in the 21st Century“, das ich derzeit im Rahmen des International Summer Program an der TU Dortmund anbiete, geht es um die Frage, wo die HipHop-Kultur als eine der wichtigsten popkulturellen Phänomene weltweit heute steht. Wir beschäftigen uns mit verschiedenen Themen, wie zum Beispiel Gender, „race“, Genre, Authentizität und kulturelle Aneignung. Ich habe zudem Künstler aus Dortmund eingeladen.

In der Debatte um die antisemitischen Zeilen auf dem Album von Kollegah und Farid Bang wurden Sie mehrfach um eine Einschätzung gebeten. Was sagen Sie dazu?

Nitzsche Der Diskurs war und ist sehr polarisiert. Befürworter argumentieren, dass Grenzüberschreitung zum Wesen des Gangsta-Raps gehört. Aus einer Genre-Perspektive kann ich also gut verstehen, dass es Rapper gibt, die Kollegah und Farid Bang verteidigen. Gegner verurteilen die Texte mit Verweis auf die moralische und historische Verantwortung der erfolgreichen Rapper. Gangsta-Rap, wie die gesamte Hip-Hop-Kultur, ist immer auch ein Mikro-Kosmos der Gesellschaft. Die Rapper haben die antisemitischen Tendenzen in der deutschen Kultur aufgegriffen und kommerziell vermarktet und ihren Disrespekt über drei Alben hinweg perfektioniert. Diese Grenzüberschreitungen, gepaart mit den treibenden Beats und einer cleveren Online- und Social Media-Kampagne kommt bei dem Zielpublikum an.

Wie steht die Wissenschaft zu dem Aggressionspotenzial des Hip-Hops?

Nitzsche Den Hip-Hop gibt es nicht, denn er ist immer kultur- und länderspezifisch. Aber die Idee der „competition“, der friedliche Wettstreit um die besseren Texte, ist einer seiner der Kernelemente. Dies kommt aus der afroamerikanischen Tradition des „boasting“ und „playing the dozens“. Dass die stark grenzüberschreitenden Genres wie der Gangsta-Rap medial am sichtbarsten sind und am meisten polarisieren, ist auch dem Markt und den Mechanismen des Kapitalismus geschuldet. Das sollte man hinterfragen. Der amerikanische Künstler Kendrick Lamar hat vor kurzem als erster Rapper überhaupt den renommierten Pulitzer-Preis erhalten. Leider ist das in den Medien fast völlig untergegangen, weil sie fixiert auf die Echo-Kontroverse waren.

Wieso ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Hip-Hop so wichtig?

Nitzsche Weil es die wahrscheinlich wichtigste Jugendkultur der Welt ist und wir unsere heutige Kultur in ihren vielfältigen Herausforderungen und Möglichkeiten ohne Hip-Hop nicht verstehen können. Hip-Hop ist in den letzten 40 Jahren so eine kulturelle Kraft geworden, die man als Wissenschaftler, als Kunstschaffende und als Politiker nicht ignorieren darf.

(lhen)
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