Hilden Wenn ein Steak zu Kunst wird
Hilden · Die Ausstellung „Vom Rohen kosten“ von Judith Samen im Kunstraum Gewerbepark Süd regt mit existenziellen Fragen des Lebens zum Nachdenken und Diskutieren an.
Ein Stück Fleisch ist mit einem langen Nagel auf einer blauen Tischplatte befestigt. Dahinter das Porträt einer rothaarigen, jungen Frau, die ihre Hände auf ihr Herz presst. Der Anblick verwirrt so wie fast alle Bilder in der Ausstellung „Vom Rohen kosten“ der Künstlerin Judith Samen. Die Werke werfen bei der Betrachtung Fragen auf. So zeigt sich die Künstlerin mal in der Badewanne mit einem Stück Fleisch sitzend, einen Jungen, der sich von einem Wursthaufen wegdreht, aber auch würdevolle Porträts älterer Menschen, die sich auf blauen Stoffbahnen präsentieren. Fast überall dabei: Rohes Fleisch und nackte Haut. „Ich möchte meine Bilder nicht erklären. Sie sollen für sich stehen“, sagt Judith Samen.
Die Ausstellung „Vom Rohen kosten“ wurde ursprünglich für das Deutsche Fleischermuseum in Böblingen entwickelt. Die Stadt Hilden holte sie mit neuen Arbeiten in die Räumlichkeit der alten Industriehalle in den Gewerbepark-Süd. „Ich bin sehr froh, in diesem schönen Raum ausstellen zu dürfen. Mein Thema passt hier perfekt rein“, sagt Judith Samen, die an der Kunstakademie Düsseldorf studierte und zahlreiche Preise mit ihrer Foto- und Objektkunst gewann. Judith Samens Kunst steht in der Tradition der Fluxus-Bewegung, die in das Leben einwirkende Produktionsprozesse miteinbezieht. Die Grenzen zwischen Kunst und Alltag sind fließend. So greift Judith Samen Körperlichkeit, Nahrungsmittel, sowie Elemente aus Kunstgeschichte und Alltag in ihrer Arbeit mit auf. Für ihre berührenden Bildschöpfungen formuliert sie Werke zwischen Poesie und Drastik.
Sie verbindet Verletzlichkeit und Humor, Vergänglichkeit und tiefes Körperempfinden mit Tragik und Komik. So zeigt sie sich selbst in ihren Bildern nackt, ungeschönt und verletzlich. Mit einer retuschierten, heilen Instagram-Bilderwelt haben diese Fotos nicht zu tun. Ihre Arbeiten werfen existentielle Fragen auf. Irritation gehört zu ihrer künstlerischen Strategie. „Ohne Humor ist meine Arbeit schwieriger zu verstehen. Meine Arbeit beschäftigt sich mit dem Menschen und dem Menschenbild aus meiner weiblichen Perspektive. Ich erlaube mir, Formulierungen für wichtige Zustände im Leben wie Vergänglichkeit, Verletzlichkeit, Sein, Älterwerden, Paarsein, Familie zu suchen“, sagt Judith Samen.
Dafür überschreitet die Künstlerin gerne Grenzen. Scheinbar Alltägliches erhält eine Absurdität, die Betrachterinnen und Betrachter herausfordern und irritieren soll. „Kontroverse Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht“, sagt Samen, deshalb geht sie am liebsten auch mit ihrem Publikum in den direkten Austausch. „Meine Bilder sollen so stark sein, dass sie nicht mehr vergessen werden können. Sie sollen im Besucher nach dem Rausgehen weiterwirken und zum Nachdenken anregen. Ich möchte gerne erreichen, dass man sich danach noch damit beschäftigt“, so Samen. Und prompt kommen auch schon Assoziationen. „Ich sehe hier in dem kleinen Jungen den Hänsel aus dem Märchen Hänsel und Gretel. Der Junge, der seine Wurst nicht essen möchte, zu der er von der Hexe gezwungen wurde, um zuzunehmen“, sagt ein Besucher.
Und das festgenagelte Fleischstück in Zeiten von Essensverschwendung und Tierhaltung? „Das darf gerne ohne Erklärungen irritieren und herausfordern. Denn dafür ist Kunst da“, sagt Judith Samen.



