Musik Geigenstunde mit Nigel

Düsseldorf · Der Engländer Nigel Kennedy ist einer der populärsten Violinisten der Welt. Berühmt ist er für seine unkonventionellen Auftritte in legerer Konzertkleidung und für seine innovativen Programme. Trotzdem spielt er unermüdlich Werke der großen Meister - beim morgigen Abend zum Beispiel lauter Bach-Konzerte in Düsseldorf. Wir trafen den Künstler bei der Probe in Meerbusch.

 Nigel Kennedy im Gespräch mit RP- Redakteur Wolfram Goertz.

Nigel Kennedy im Gespräch mit RP- Redakteur Wolfram Goertz.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Musiker sind nicht eitel - sie bestehen aus Eitelkeit." Als Kurt Tucholsky diesen Satz niederschrieb, hatte er keine Ahnung, dass ein ziemlich seltsamer englischer Geiger an einem frostigen Februar-Abend im Jahr 2015 diesen Satz mit wildem Bogenstrich und abenteuerlicher Garderobe furios widerlegen wird. Dieser Mann ist vermutlich der uneitelste Mensch der Welt. Sein Name: Nigel Kennedy.

 Nigel Kennedy bei der Probe mit dem Russischen Kammerorchester in Meerbusch-Büderich.

Nigel Kennedy bei der Probe mit dem Russischen Kammerorchester in Meerbusch-Büderich.

Foto: Andreas Endermann

Der Geiger, 1956 in Brighton geboren, beschäftigt sich im Gemeindesaal der Heilig-Geist-Kirche von Meerbusch-Büderich mit dem Allergrößten, mit Johann Sebastian Bach, und weil dieser Bach eine so große Hausnummer und eine noch größere Hürde ist, tritt Kennedy ihm im Trainingsanzug entgegen. Adidas-Hose. Turnschuhe. Oben ein welkes T-Shirt. Die Haare stehen gen Himmel, die letzte Rasur stammt nicht vom Vormittag. Mit der Russischen Kammerphilharmonie probiert der Musikus die Violinkonzerte von Bach; gestern traten sie in der Wuppertaler Stadthalle auf, morgen Abend sind sie in der Düsseldorfer Tonhalle zu Gast.

Man darf annehmen, dass Kennedy auf der Bühne nur unwesentlich anders aussehen wird als bei der Probe. Er macht sich nichts aus Fräcken, gestärkten Leibchen, gewienerten Schuhen, feinen Strümpfen, Krawatten, Hemdknöpfen, Fliegen. Nigel muss sich wohlfühlen auf einer Bühne, sie ist sein Wohnzimmer, nicht sein Festsaal, und wenn andere Musiker dabei sind, dann behandelt er sie wie Freunde. Wie Kumpane. Wie Verschworene. Aus einem Orchester wird eine Sippschaft.

Deshalb sieht es im Gemeindesaal aus wie nach einer Fete junger Leute, die ihre Eltern über das Wochenende verreist wissen. Auf einem langen Tisch stapeln sich Pizzakartons. Daneben kugeln sich Mandarinen. In der Ecke steht eine Thermoskanne mit Salbeitee. Irgendwann wird Nigel, der mit der Welt 24 Stunden lang per Du ist, sich aus dieser Kanne bedienen, dann stapft er zum Interview.

Vorher aber muss er Bachs Konzerte proben, das ist nicht so einfach, denn die Russische Kammerphilharmonie hat noch deutlich andere Vorstellungen von diesen Werken als er selbst. Weil ein Geigenbogen zum Dirigieren aber etwas zu filigran ist, stampft Nigel mit dem Fuß auf, als wolle er sagen: Das ist der Takt! Natürlich sind das alles Profis, die diesen Bach selbst schon solistisch gespielt haben, aber Nigel möchte es individuell. Im E-Dur-Violinkonzert zum Beispiel will er einen lombardischen Rhythmus, kurz-lang, kurz-lang, das soll beinahe ein wenig hinken, aber bei erhöhter Geschwindigkeit, da müssen die Musiker aus Sankt Petersburg schon etwas nachdenken, wie sie das auf die Reihe bekommen. "This is a fucking good rhythm", sagt Nigel, der derbe Sprache liebt und das Geschniegelte hasst. Aber er ist kein Schmuddelkind aus der Gosse, auch wenn er mit dem Image des Punks, des Anti-Stars, des Proletariers kokettiert. Wenn Nigel die Geige zum Kinn führt, kommt oft Großes dabei heraus. Und langweilig ist es nie.

Nigel Kennedy spielt nicht immer gleich perfekt, es gibt Tage, an denen er beinahe mäßig und fast lustlos säbelt. Auch in dieser Probe setzt er wieder einige abgewetzte Töne aufs Griffbrett, aber man kann ihm nicht böse sein, denn im Gegenzug bietet er im Übermaß wunderbare Momente. Kennedy ist ja kein Blender, der mit koboldhafter Show unterkomplexes musikalisches Talent überspielen müsste. Nein, Kennedy ist ein bedeutender Musiker, ein Saitenakrobat und Ausdruckswütiger, und um der Intensität willen nimmt er Späne gern in Kauf.

Wenn das Orchester morgen aufläuft, werden sie Kleid, Frack und zivilisierte Frisuren tragen, sie sind sozusagen der konventionelle Teil des Abends, sie sind das unabhängige, vom TÜV genehmigte Trampolin, auf dem Nigel Kennedy herumturnen darf. Und das macht ihm riesig Spaß, immer noch. Er kann nicht anders. Und wenn er gut drauf ist, geigt er die Welt in Grund und Boden.

Vor einigen Jahren spielte er mal das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven in der Düsseldorfer Tonhalle, und uns Zuhörern fiel dazu ein markanter Satz des Komponisten selbst ein: "Dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist schlagen." Auch Kennedy kannte diesen Satz, denn sein Spiel erinnerte an Beethovens plebejische Wurzeln, an dieses Phänomen des Ungezähmten, Ungebärdigen, Wütenden, welches große Beethoven-Interpretationen auszeichnet. Dazwischen schüttete er aber auch Inseln des Friedens und einer geradezu ozeanischen Ruhe auf, dass man seinen Augen und Ohren nicht glaubte: Kennedy, der Wibbelstitz, verbreitete paradiesische Stille um sich.

Bekannt wurde der Künstler durch eine faszinierende Aufnahme der "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi, die es ohne den Nimbus des Punks mit den vermutlich teuer bezahlten Lumpen als Konzertgarderobe nicht an die Spitze der Charts geschafft hätte. Vielleicht aber doch: Die über drei Millionen Käufer wussten, dass dieser Nigel Kennedy längst mit den Berliner Philharmonikern auftrat; dass er Musik von Jimi Hendrix für die Geige bearbeitete; dass er sich von Stéphane Grappelli in der Jazz-Improvisation hatte unterweisen lassen; dass er bei der Ikone der Geigenpädagogik, bei Dorothy DeLay an der Juilliard-School in New York, Unterricht genommen hatte. Kennedy war irgendwann bekannt wie ein bunter Hund - unmöglich, an ihm vorbeizukommen.

Bald ist die Probe vorbei, Nigel muss nicht lange zum Interview gebeten werden, er stiefelt wie Catweazle in die Ecke des Gemeindehauses, wir hocken uns im Minimalabstand zusammen, und Nigel befleißigt sich ausnahmsweise der Oxford-Aussprache. Er ist gut drauf. Und er hat auch wirklich etwas zu sagen.

Auf seinen Vivaldi wird er natürlich immer wieder gern angesprochen, aber nie mehr würde er die alten Platten von damals auflegen: "Wenn ich mich erhole, dann bestimmt nicht mit den ,Vier Jahreszeiten'. Ich würde ohne Vivaldi leben können, ohne Bach nicht. Er ist der Größte, weil er der Spirituellste ist. Vivaldi bietet mehr Spaß, aber ihn würde ich in zwanzig Jahren nicht besser spielen. Bach schon."

An Bach kann ein Nigel nur wachsen, aber dieses barocke Monument besteht für ihn nicht aus Marmor. Deshalb der fanatische Rhythmus im E-Dur-Konzert, der fast zickt und zackt. Der Interviewer sucht ein englisches Wort dafür und wirft "spicy" (würzig) in der Raum. Nigel springt auf: "Yeah, man, it's fucking spicy. Great!" Und strahlt und haut mir voller Freude auf die Schulter, als wolle er eine Blockade lösen. Kann sein, dass er dieses "spicy" morgen in einer seiner berüchtigten Ansagen zitieren wird.

Manchmal spielt Kennedy seine Guarneri-Geige auch bei dieser Probe völlig ohne Vibrato oder sehr nah am Steg. Ist das eine Frucht seiner diskreten, aber gründlichen Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis? "Einspielungen mit alten Instrumenten höre ich furchtbar gern, sie stimulieren mich auch." Dennoch hat er nie daran gedacht, seine Guarneri zur Barockgeige mit Darmsaiten umbauen zu lassen: "Dann wäre sie für alle späteren Epochen unbrauchbar. Aber vielleicht leihe ich mir mal eine, so wie ich mich ja auch mit elektrischen Geigen beschäftige."

Der sogenannten historischen Aufführungspraxis steht er gleichwohl kritisch gegenüber, "und zwar immer dann, wenn ich unsinnige Regeln spüre, wie Musik gespielt werden dürfe und wie nicht. Die Historisten sind manchmal, auch im Konzert, eher an der korrekten Technik als an der Musik orientiert." Ohnedies seien alte Instrumente nur begrenzt für moderne große Konzertsäle geeignet; es fehle ihnen an Resonanz, Strahlkraft. Da besitze die Stahlsaite mehr Kawuppdich.

Nicht alle Musiker der Russischen Kammerphilharmonie kennen Nigel Kennedy gut genug, einige müssen sich noch merklich an den deftigen, unzivilisierten Humor des Engländers gewöhnen. Einmal möchte er, dass alle mit dem Schlussakkord aufstehen, als sei jeder Sitz auf dem Podium plötzlich eine glühende Herdplatte. Einer rümpft die Nase, wird aber von der Kollektivfreude der anderen infiziert. Bei Nigel darf ein Auftritt unerwartet und überfallartig zugehen; Schablonen müssen geknackt, Rituale abgeschafft werden. Deswegen wird er sich auch wieder um Musik von Jimi Hendrix kümmern, die sei überfällig, und am schönsten sei es, wenn er einen Konzertveranstalter für diese Musik gewinnen könnte. Aber das ist offenbar nicht so einfach: "Manche Manager halten Zuhörer für Idioten. Deshalb bleibt das Publikum oft in diesem Spinnennetz gefangen, das heute die ganze Klassik einschnürt."

Und wenn nicht Hendrix an der Reihe ist, dann vielleicht Klezmer oder Jazz, Nigel plant nicht für die Ewigkeit, sondern nach Herzensbedarf. Zeitpläne sind ihm ein Graus, weswegen sein Management immer auch psychotherapeutische Aufgaben übernehmen muss, um den rebellischen Querkopf zu disziplinieren. Das geht fast immer gut, denn Nigel ist aus Prinzip pflegeleicht. Es sei denn, er rastet aus. Solche Anfälle dauern nicht lange: Nigel ist sehr harmoniebedürftig.

Die Probe geht heiter weiter, das pädagogische Talent des englischen Saitenkünstlers sollte man nicht unterschätzen, er sorgt für maximale Spannung, indem er komplizierte Stellen manchmal eben nicht probt. Der Determinismus von Interpretation, der alle Phrasierung bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma ausrechnet, ist ihm suspekt. Freizügigkeit hat etwas unendlich Entspannendes und Großzügiges. Nigel weiß, dass morgen alle auf der Stuhlkante sitzen. Und wenn mal eine Passage in die Trainingshose geht, macht das gar nichts. Hinterher lacht er und entbietet seinen legendären Faustgruß.

Was hat Bach davon? "Bach wäre gern bei uns, der Mann war ja gesellig." Nigel, der Uneitle, strahlt wieder - den alten Bach würde er gern mal mit zu Aston Villa nehmen, seinem englischen Lieblingsclub. Sie würden im Stadion stehen, Schals um den Hals, ein Bier in der Hand. Aston Villa steht derzeit schlecht in der Tabelle, deshalb müsste Bach seinen Nigel trösten. Das gelingt Bach oft - mit ihm in Nigels Team besteht immer Hoffnung..

Das werden wir morgen Abend hoffentlich zu spüren bekommen.

(RP)
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