Eurovision Song Contest 2023 Perfektion schlägt Party-Rap
Liverpool · Beim Eurovision Song Contest 2023 gab es den erwarteten Erfolg der Schwedin Loreen. Doch der Sieg hatte einen Makel: Das Publikum entschied sich eindeutig anders. Die deutschen Starter Lord of the Lost erlebten eine große Enttäuschung.

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Loreen hat den Eurovision Song Contest 2023 gewonnen. Das ist keine Überraschung. Die Siegerin von 2012 („Euphoria“) war die Top-Favoritin. Und ihr Erfolg ist historisch. Zuvor konnte sich nur der Ire Johnny Logan die Trophäe gleich zwei Mal sichern. Es kam genauso, wie es die Wettanbieter vorausgesagt hatten: Schweden setzte sich haushoch bei den Jurys durch. Fast genauso deutlich gewann allerdings ihr größter Konkurrent Käärijä aus Finnland auch die Zuschauer-Abstimmung. Loreens Sieg hat somit einen Makel: Reine Jury-Sieger haben es in der Wahrnehmung der Fans traditionell schwer.

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Was keineswegs heißt, dass Loreens Sieg unverdient ist. Die 39-Jährige legte in der M&S Bank Arena in Liverpool einen perfekten Auftritt hin. Stimme, Ausstrahlung, Choreografie – alles saß. Lediglich ihr Lied „Tattoo“ konnte nicht ganz mit ihrem vorherigen Siegersong „Euphoria“ mithalten. Der ist allerdings auch einer der größten Hits der ESC-Geschichte. Dass das Fernsehpublikum einen anderen Sieger bevorzugte, deutete sich allerdings schon während der Jury-Punktevergabe an. Wie zum Protest stimmten da große Teile des Hallenpublikums einen „Cha Cha Cha“-Chor an.
Der gleichnamige Titel des Finnen Käärijä bot eine völlig verrückte Live-Show, irgendwo zwischen Metalcore, Hip-Hop und Schlager. Ein schräges Gesamtkunstwerk, das schon vor dem ESC viele Fans in ganz Europa gefunden hatte. Das reichte zu überragenden 376 Punkten im Publikumsvoting. Doch das Publikum mochte Loreen lieber als die Jurys Käärijä. Sein vierter Platz dort verdarb ihm den möglichen Sieg. ESC-Dritte wurde Noa Kirel aus Israel. Das lag weniger an ihrem soliden Pop-Song als an der großartigen Show, die Kirel singend und vor allem tanzend auf der ESC-Bühne ablieferte.
Überraschend an diesem Abend war, dass es für Deutschland wieder nur für den letzten Platz reichte. Lord of the Lost legten einen überzeugenden Auftritt hin. Ihr „Blood & Glitter“ erfand die Rockgeschichte zwar nicht neu, aber das erwartet beim ESC auch niemand ernsthaft. Sänger Chris Harms merkte man seine große Live-Erfahrung an. Er sprach das Publikum direkt an und traf jeden Ton, ob gesungen oder geschrien. Doch weder die Jurys (drei Punkte) noch das Fernsehpublikum (15 Punkte) konnten mit dem deutschen Beitrag sonderlich viel anfangen. Da half es auch nicht, dass mit Komponist Ralph Siegel ein deutscher Sieger (1982 mit Nicole) extra zum Finale nach Liverpool gereist war. Der Norddeutsche Rundfunk muss nun das nächste ESC-Desaster aufarbeiten.

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Auch der ESC in Liverpool stand wie die Vorjahresausgabe in Turin ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Er war ein Spagat. Zwischen den eigentlichen Gastgebern Ukraine und dem eingesprungenen Großbritannien. Zwischen Krieg und Party. Beides funktionierte, ohne dass es wie ein Widerspruch wirkte. Liverpool gab sich gastfreundlich und zurückhaltend. Der Ukraine gebührte nicht nur der Auftakt mit Vorjahressieger Kalush Orchestra. Die Show hatte kaum begonnen, da standen schon insgesamt fünf ehemalige ukrainische ESC-Teilnehmer auf der Bühne. Darunter Jamala (Siegerin 2016 mit „1944“) und Fan-Liebling Verka Serduchka (Zweite 2007 mit „Dancing Lasha Tumbai“). Es gab viele emotionale Momente und dennoch herrschte in der Halle eine ausgelassene Partystimmung.
Besonders schwer muss dieser Spagat für die ukrainischen Teilnehmer Tvorchi gewesen sein, die am Ende den sechsten Platz belegten. Wie noch während der Live-Show am Samstagabend bekannt wurde, hatte Russland ihre Heimatstadt Ternipol im Westen des Landes mit Raketen angegriffen. Kurz bevor das Duo mit dem modernen Elektropop-Song „Heart of Steel“ einen sehr professionellen Auftritt hinlegte.
Doch auch die typisch britischen Momente fehlten nicht. Zum Auftakt des Pausenprogramms während der Telefonabstimmung trat der Vorjahreszweite Sam Ryder gemeinsam mit Queen-Schlagzeuger Roger Taylor auf. Ein großes ESC-Staraufgebot, darunter der niederländische Ex-Sieger Duncan Laurence („Arcade“) und die israelische Ex-Siegerin Netta („Toy“) versuchten sich an alten Liverpooler Klassikern von „Imagine“ bis „You‘ll never walk alone“. Und König Charles hatte zumindest einen zweisekündigen Videoauftritt.
Als Deutschland noch bei null Punkten stand, versuchte es Elton bei der deutschen Jury-Punktevergabe mit Humor. Inklusive Kiew-Liverpool-Wortwitz und schräger Insider-Anspielung an die Rolle der Moderatorin Hannah Waddingham in der Streaming-Serie „Ted Lasso“ war das deutlich eher peinlich als lustig. Skurriler wurde es nur noch, als Island an der Reihe war. Ein Mitglied der Band Hatari (ESC-Teilnehmer 2019) war im Video in seinem Leder-Outfit zu sehen und öffnete nur kurz seinen Reißverschluss vor dem Mund, um Australien als isländischen Jury-Sieger zu verkünden.
Während Deutschland nun bei sieben von acht der letzten ESCs Vorletzter oder Letzter wurde, ist es für Schweden bereits der siebte Sieg. Das Land ist damit jetzt gemeinsam mit Irland die erfolgreichste ESC-Nation aller Zeiten. Sichtlich euphorisiert beantwortete Loreen nach der Show im Pressekonferenz-Raum des Medienzentrums die Fragen der Journalisten.
An gleicher Stelle hatte am Tag zuvor noch der Sänger von Lord of the Lost gesessen. „Es kann etwas in einem zerstören, Letzter zu werden“, hatte Chris Harms dort gesagt. Er hoffe, dass er sich dieser Situation nicht stellen muss. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt.