“Unser Lied für Liverpool“ Die ESC-Zuschauer haben genug vom Mainstream-Pop

Meinung | Köln · Alle Jahre wieder scheitert Deutschland mit austauschbarer Radiomusik beim ESC. So war der Sieg der Gothic-Rocker Lord of the Lost beim Vorentscheid am 3. März auch eine Abrechnung mit vergangenen Fehlern.

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Foto: dpa/Peter Byrne

Am Ende fühlte es sich fast wie eine Revolution an. Da kommt eine Rockband mit Ursprüngen in der düsteren Gothic-Szene. Der Sänger singt nicht nur, er schreit auch. Es gibt Gitarren, ein Schlagzeug, Feuer. Es wird laut. Und dennoch darf die Band nicht nur am ESC-Vorentscheid teilnehmen, sie gewinnt auch noch. Lord of the Lost wird am 13. Mai mit „Blood & Glitter“ für Deutschland am Eurovision Song Contest in Liverpool teilnehmen.

Das ist eine gute, eine richtige Wahl. Lord of the Lost galten spätestens seit den Proben als Favoriten bei „Unser Lied für Liverpool“. Der am Ende deutliche Sieg der Band ist auch eine Reaktion auf die große Enttäuschung des Vorjahres, als der ausrichtende Norddeutsche Rundfunk (NDR) den Fan-Favoriten und wohl sicheren Vorentscheid-Sieger Electric Callboy gar nicht erst zur Show zuließ. Die Metalcore-Band galt als nicht radiotauglich genug. In einem schwachen Wettbewerb setzte sich damals der seichte Mainstream-Pop von Malik Harris („Rockstar“) durch. Beim Finale wurde der Sänger dann fast schon traditionell Letzter. Nur einer der letzten sieben deutschen ESC-Teilnehmer schaffte es überhaupt auf einen besseren als den vorletzten Platz.

Und doch sah es auch am Freitagabend lange danach aus, dass Deutschland tatsächlich wieder austauschbaren Pop nach Liverpool schickt. Überraschend war nur, dass das dieses Mal nur indirekt am NDR lag. Denn der hatte im am Ende achtköpfigen Teilnehmerfeld (Frida Gold mussten krankheitsbedingt zurückziehen) auch Partyschlager, Electro-Folk und gleich zwei Rockbands zugelassen. Dem Ausland war das wohl zu ungewohnt. Anders lässt es sich kaum erklären, dass die acht internationalen Jurys genau jene drei Teilnehmer auf die ersten Plätze wählten, die austauschbaren Radio-Pop boten. Auch wenn Jury-Favorit Will Church, so viel sei ihm zugestanden, gesanglich absolut überzeugte. Dennoch sollte der NDR beim nächsten Mal seine Juryauswahl überdenken. Zu groß waren die Unterschiede zwischen Zuschauer- und „Experten“-Geschmack.

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Foto: dpa/Christoph Soeder

Denn das deutsche Fernsehpublikum hatte genug. Bei der kombinierten Zuschauer- und vorangegangen Online-Abstimmung wählte kaum jemand die von der Jury geliebten Pop-Acts, sondern in großer Mehrheit die beiden Teilnehmer, die sich davon am meisten absetzten. Das war zum einen Matthias Distel alias „Ikke Hüftgold“, der mit seinem Blödel-Schlager „Lied mit gutem Text“ für viele ESC-Fans als die schlimmste Wahl des Abends galt. Er lieferte aber zumindest eine lustige Show und erhielt nach einem erwartbaren letzten Platz bei den Jurys beim Publikum die zweitmeisten Stimmen. Am Ende lag er punktgleich mit Will Church an zweiter Stelle. Noch einmal deutlich mehr Zuschauer stimmten nur für Lord of the Lost.

Es war ein verdienter Sieg. Sänger Chris Harms traf selbst schreiend jeden Ton – was der anderen Fan-Favoritin, Patty Gurdy aus Düsseldorf, schon singend nicht gelang. Dazu gab es schrille Outfits und eine gute Bühnenshow, an der für Liverpool aber sicherlich noch ein wenig gefeilt werden kann. Musikalisch war bei dieser wilden Mischung aus Rammstein, Synthie-Pop und Metalcore zudem für jeden etwas dabei. Dass „Blood & Glitter“ durchaus massentauglich ist, zeigte sich schon, als es das gleichnamige Album der Hamburger Band zum Jahresbeginn auf Platz eins der deutschen Charts schaffte. Es zeigte sich aber auch am großen Applaus beim sonst nicht für seine Rock-Vorliebe bekannten ESC-Publikum im Kölner Fernsehstudio.

Bevor zu viel Euphorie aufkommt: Auch dieser Abend zeigte wieder, dass der ESC dem Deutschen Fernsehen maximal noch als gründlich abgehangenes Nischenprodukt taugt. Barbara Schöneberger moderierte zum gefühlt 50. Mal die immer gleiche Show mit mittelmäßigen Showeinlagen, schlechten Witzen und langweiligen Gesprächen auf der Expertencouch. Dazu gab es zwar deutliche Fortschritte beim Bühnenbild, vieles sah aber immer noch billig und halbherzig aus. Gerade beim Gedanken an die Jahr für Jahr perfekten Inszenierungen in anderen ESC-Teilnehmerländern wie Schweden. Dass auch die ARD sich nicht mehr viel von solch einem Abend erwartet, zeigt der neue Sendeplatz um 22.20 Uhr. Nach dem Fernsehfilm „Käthe und ich“ und den Tagesthemen.

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Foto: dpa/Peter Kneffel

Insofern liegt auch ein gewisser Druck auf dem Auftritt von Lord of the Lost in Liverpool. Damit sich der ESC wieder ein wenig aus dem Nischendasein herausbewegt, wäre ein ordentlicher Platz beim Finale schon einmal hilfreich. Er würde auch dabei helfen, dass nun dauerhaft Nicht-Pop-Sänger beim Vorentscheid zugelassen werden und – auch das ist entscheidend – überhaupt wieder Lust haben, sich zu bewerben. Ob das wirklich gelingt, wird sich am 13. Mai zeigen. Das Schöne nach Jahren des konsequenten Misserfolgs: Schon ein drittletzter Platz wäre ein Schritt nach vorne. Lord of the Lost und den leidgeprüften deutschen ESC-Fans wäre ein Achtungserfolg zu gönnen.

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