Letzter Platz für Deutschland Beim ESC hilft nur noch ein radikaler Neustart

Analyse · Dass Lord of the Lost beim Eurovision Song Contest in Liverpool Letzter wurden, ist unverdient. Doch der chronische deutsche Misserfolg hat viel mit alten Fehlern zu tun. Nun braucht es neue Ideen, neue Gesichter und Peter Urban als Vorbild.

ESC 2023: Das waren die schönsten Momente - Fotos
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Die schönsten Momente des ESC 2023

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Foto: dpa/Peter Kneffel

Wer sich hierzulande mit dem ESC beschäftigt, ist es schon gewohnt. Europa stimmt ab und vergisst dabei den deutschen Beitrag – alles wie immer. Bei den letzten acht Teilnahmen wurde Deutschland sieben (!) Mal Letzter oder Vorletzter. Eine Schreckensbilanz für die Ewigkeit. Und doch fühlte es sich in diesem Jahr anders an. Niemand hatte die Hamburger Gothic-Rocker Lord of the Lost auf dem letzten Platz gesehen. Zu gut der Auftritt, zu professionell die Band. In der Nacht zum Sonntag herrschte große Ratlosigkeit. Sie war in Kommentaren auf Twitter zu lesen, sie war unter den deutschen Medienvertretern im Liverpooler Pressezentrum zu spüren. Was ist nur diesmal wieder schiefgelaufen?

In den vergangenen Jahren waren die Antworten auf diese Frage deutlich einfacher. Regelmäßig schickte Deutschland mittelmäßigen Mainstream-Pop auf die große ESC-Bühne. Beiträge, die nicht wehtaten, aber eben auch nicht auffielen. „Ihr habt den ESC nicht verstanden“, warfen Fans und Journalisten dem in Deutschland für den Wettbewerb verantwortlichen Norddeutschen Rundfunk (NDR) vor. Auch der Autor dieser Zeilen. Besonders groß war die Unzufriedenheit im vergangenen Jahr, als der NDR die, wie für die ESC-Bühne geschaffene, Metalcore-Band Electric Callboy wegen mangelnder Radiotauglichkeit in der Vorauswahl aussortierte und Deutschland – mit harmlosem Pop – wieder Letzter wurde.

Der NDR hat vieles falsch gemacht, aber in diesem Jahr endlich auf die Kritiker gehört. Der Vorentscheid zum ESC 2023 war der vielfältigste seit langer Zeit. Endlich war nicht nur Pop vertreten, sondern ein breites Angebot von Partyschlager (Ikke Hüftgold) bis Rock (Lord of the Lost). Endlich Vielfalt, sagten die Fans, fuhren optimistisch nach Liverpool und sahen dort wieder einen letzten Platz. „Ich habe auch keine Idee mehr“, fasste ein deutscher Medienvertreter die Stimmung der Nacht zum Sonntag zusammen. Da war er gerade auf dem Rückweg von der Pressekonferenz der schwedischen Siegerin Loreen. Na ja, vielleicht wird es ja nächstes Jahr etwas.

Lord of the Lost hatten den letzten Platz nicht verdient, das ist richtig. Aber bei genauem Hinsehen ist der deutsche Optimismus in diesem Jahr auch nur so groß gewesen, weil es eben vorher noch viel schlimmer war. „Platz 15“ hatte sich Sänger Chris Harms für seine Band gewünscht, mit mehr hatte auch ernsthaft niemand gerechnet. Auf Sieg hat wieder keiner gespielt. Die Hamburger Rocker sind sonst eher für härtere Klänge bekannt, hatten für den ESC aber bewusst ein softes Lied ausgewählt. Die Idee: Dem Massenpublikum und – wohl vorrangig – dem NDR gefallen. Auch der Auftritt der Band war mit der Feuershow für deutsche Verhältnisse ambitioniert, aber kein Vergleich mit dem, was die Top-3 des diesjährigen Jahrgangs auffuhren.

Gegen die Perfektion einer Loreen, den Wahnsinn des Finnen Käärijä (bei dem sich im Übrigen der Electric-Callboy-Vergleich mehr als aufdrängt) und die Tanzeinlagen der israelischen Teilnehmerin Noa Kirel wirkten Lord of the Lost zu brav. Daran änderten auch ESC-untypisches Geschrei und die schrillen Kostüme nichts. Das zeigte sich im Zuschauer-Voting. Dort landete „Blood & Glitter“ in kaum einem Land ganz hinten, sondern meistens im Mittelfeld. Punkte gibt es dafür allerdings nicht. Der Auftritt war – wie so oft aus Deutschland – Durchschnitt. Und Durchschnitt wird beim ESC nun einmal nicht belohnt.

So war es zwar der am wenigsten verdiente Misserfolg des NDR in seiner jüngeren ESC-Geschichte, doch setzten sich in ihm alte Fehler fort. Die wirklich besonderen Künstler und Musik-Größen sind längst verprellt. Ein sich selbst einschränkendes Lord of the Lost war nun das Beste, was die Verantwortlichen noch auftreiben konnten. Natürlich war auch ein bisschen Pech dabei. Ein wenig mehr Nachbarschafts-Voting, wie es in anderen Ländern üblich ist. Eine Jury, die ein wenig mehr Lust auf Rock hat. All das hätte den letzten Platz verhindern können. Ein gutes Ergebnis wäre es dann aber trotzdem nicht geworden.

Deutschland braucht nun keine Politik der kleinen Schritte mehr, sondern einen echten ESC-Reset. Im Fußball kann sich ein Trainer nach Jahren voller Abstiege auch nicht damit herausreden, dass die Mannschaft dieses Jahr zumindest besser gespielt hat. Das Gegenteil ist richtig. Um in der Fußballmetapher zu bleiben: Wenn man alles versucht und trotzdem Letzter wird, liegt es vielleicht doch an einem selbst. Dann muss es einen Trainerwechsel geben. Und wenn es nur darum geht, neue Motivation zu finden.

Denn ein Teil des Problems ist auch, dass der NDR ohne einen radikalen Wandel auf Jahre keine großen deutschen Künstler für den Wettbewerb begeistern können wird. Warum auch die eigene Karriere gefährden? Es braucht ein neues Konzept und neue Verantwortliche. Ein Vorentscheid-System, in dem Mut, Verrücktheit und noch größere Vielfalt belohnt werden, in dem sich Künstler nicht selbst beschränken, um den Pop-Ohren zu gefallen. Dazu Inszenierungen, die wirklich alles aus den drei Minuten auf der ESC-Bühne herausholen. Alle Ideen sollten willkommen sein.

Ja, Lord of the Lost waren trotz ihres letzten Platzes ein Schritt nach vorne. Schulterklopfer helfen jetzt trotzdem nicht weiter. Warum also nicht wirklich mutig sein? Peter Urban hat am Samstagabend nach 25 Jahren seine Karriere als ESC-Kommentator beendet. Wer viele dieser Ausgaben in Verantwortung miterlebt hat, sollte es ihm gleichtun. Denn eine Durchhalteparole der letzten Jahre bleibt zumindest wahr: Schlimmer kann es nicht mehr werden.

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