Eurovision Song Contest Wie Deutschland beim ESC erfolgreich sein könnte

Analyse | Düsseldorf · In sechs der letzten sieben ESC-Finals sind die deutschen Beiträge auf dem letzten oder vorletzten Platz gelandet, so auch der von Malik Harris am Samstag in Turin. Was die Gründe dafür sind und warum es nun Mut und einen neuen Stefan Raab braucht.

ESC 2024: Die deutschen Teilnehmer seit Lena Meyer-Landrut
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Die deutschen ESC-Teilnehmer seit Lenas Sieg

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Foto: dpa/Christoph Soeder

Die Hoffnung von Malik Harris endet in Turin in der Nacht zum Sonntag so gegen viertel vor Eins. Dass sein Beitrag „Rockstars“ von den ESC-Jurys null Punkte erhalten hat, weiß er da schon eine Weile. Nun sieht er die Wertungen der Fernsehzuschauer. Dort sind es sechs Punkte. Es ist der sichere letzte Platz, noch bevor irgendein anderes Land seine Wertung erhalten hat. Ein weiterer deutscher Misserfolg beim Eurovision Song Contest. Einer, der so vorhersehbar war wie der Sieg der ukrainischen Band Kalush Orchestra. Weil der in Deutschland ausrichtende NDR den Wettbewerb bis heute nicht verstanden hat.

Die jüngere deutsche ESC-Geschichte ist eine Schreckensbilanz wie sie kein anderes Teilnehmerland aufweisen kann. Von den letzten sieben Beiträgen landeten sechs auf dem letzten oder vorletzten Platz und kamen dabei zusammenaddiert auf 50 Punkte, was in diesem Jahr nicht einmal für ein Ergebnis unter den ersten 20 gereicht hätte.

Jahr für Jahr versprüht die deutsche Delegation Zweckoptimismus und wirbt für Musiker, von denen sie in der Regel weiß, dass sie auch dieses Mal wieder nichts reißen werden. Wenn es soweit ist, beklagen die einen, dass das schöne Lied und der sympathische Künstler in Europa nicht verstanden wurden. Die anderen fabulieren darüber, dass Deutschland einfach zu unbeliebt sei und deshalb immer verliere. Beides ist Quatsch. Zur Wahrheit gehört wahrscheinlich ein wenig der deutsche Musikgeschmack, vor allem aber eine unvergleichbare Mutlosigkeit in der Vorauswahl. Was selten so deutlich wurde, wie in diesem Jahr.

Denn dass Malik Harris mit „Rockstars“ für Deutschland zum ESC gefahren ist, war eine richtige Entscheidung der deutschen Zuschauer. Der 24-Jährige war tatsächlich der beste von sechs Startern in einer peinlichen Vorentscheidung. Nach monatelangen Castings präsentierte der NDR eine Künstlerauswahl, die so musikalisch dünn wie gleichklingend war, dass man sich ernsthaft fragen musste wie die übrigen 938 Lieder klangen, mit denen sich Musiker ebenfalls beworben hatten. Zum Glück für den Glauben an die deutsche Musik und zum Pech für den NDR wurden einige der übrigen Bewerbungen bekannt. Eine von ihnen kam so gut an, dass Deutschland in den Wettquoten zeitweise nur deshalb unter den ersten Zehn lag.

Die Metalcore-Band Eskimo Callboy (heute: Electric Callboy) hatte sich gleich mit zwei Titeln beworben. Die bunt-verrückten Videos dazu wurden auf Youtube millionenfach geklickt, erstmals seit dem Sieg von Lena 2010 entstand so etwas wie ein kleiner Hype um den deutschen Beitrag. Doch was tat der NDR, der in den letzten 15 Jahren überwiegend belanglosen Pop zum ESC geschickt hatte? Er organisierte die Vorauswahl unter Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Pop-Radiosender. Und da sie die Vorentscheidungsteilnehmer dort auch spielen sollten, wählten die aus, was im Radio nicht wehtut: belanglosen Pop. Electric Callboy durften sich nicht dem Publikum präsentieren, daran änderte auch eine Petition mit 130.000 (!) Unterschriften nichts.

Ein Jahr zuvor machte es sich der NDR noch einfacher und wählte nach ebenfalls ausgiebiger Vorauswahl Jendrik aus. Einen sympathischen Typen, der in einem Keller ein lustiges Video gedreht hatte, was in den Nuller-Jahren sicherlich ein paar Spaßanrufer beim ESC überzeugt hätte. In Rotterdam reichte das für den vorletzten Platz, mit null Punkten vom Publikum. Gleich zwei Jurys hatten zuvor entschieden. Was mit großem Lob der NDR-Verantwortlichen für den Beitrag begann, endete mit einem betrunkenen Verlierer-Interview in der ESC-Nacht, in dem Jendrik andeutete, bewusst keinen guten Song eingereicht zu haben, um seine Chancen beim NDR zu erhöhen.

Es ist ja (hoffentlich) nicht so, dass es im deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk niemandem mit Ahnung von Musik gibt. Es gibt dort auch zahlreiche Menschen, die seit Jahrzehnten mit viel Elan und Leidenschaft den Eurovision Song Contest begleiten. Nur sind diejenigen, die beim NDR über den deutschen Beitrag entscheiden, anscheinend vollkommen beratungsresistent. Anders lässt sich die Hartnäckigkeit, mit der Deutschland jeden Musik-Trend verpasst, nicht erklären.

Es ist auch nicht so, dass Deutschland in den letzten 25 Jahren niemals einen erfolgreichen Titel zum ESC geschickt hätte. Zumindest sieben Mal reichte es in dieser Zeit für einen Top-10-Platz. 2018 hatten die Verantwortlichen Glück, als sich mit Michael Schulte zwar auch ein Standard-Popsänger bewarb, dessen Ausstrahlung und dessen Song „You Let Me Walk Alone“ aber so stark waren, dass es zu einem herausragenden vierten Platz reichte. Die übrigen guten Ergebnisse stammen allerdings entweder aus einer Zeit, in der der klassisch deutsche Schlager noch halbwegs erfolgreich war (1999, 2001) oder sind allesamt dadurch entstanden, dass Stefan Raab als Komponist, Interpret oder Produzent am ESC beteiligt war.

Raab war damals das notwendige Korrektiv, um den NDR davon zu überzeugen, sich vom Schlager-Muff vergangener Jahre zu befreien. Heute braucht es wieder jemanden, der die Verantwortlichen von ihrem Weg des austauschbaren Pop abbringt. Denn auch dieses Konzept ist überholt. Es kommt weniger denn je beim ESC auf die Musikrichtung an. Was zählt sind ein besonderer Künstler, ein besonderer Titel und eine besondere Inszenierung. Die Rockband Maneskin (ESC-Sieger 2021) wäre in der aktuellen Vorauswahl des NDR allerdings wahrscheinlich ebenso gescheitert wie die diesjährigen Sieger des Kalush Orchestra. Ethno-Hiphop ist schließlich nicht Popradio-tauglich.

In einer Niederlage liegt allerdings immer auch eine Chance. Der NDR hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Die deutsche ESC-Reputation ist bereits gleich null. Was spricht also dagegen, wirklich einmal Vielfalt zu wagen? Einen Vorentscheid mit vielen verschiedenen Musikrichtungen. Einen Auswahlprozess, der das Besondere und nicht das Harmlose sucht. Damit die Zuschauer am Ende nicht wieder zwischen sechs wahrscheinlichen letzten Plätzen entscheiden müssen.

Zugegeben, der NDR hat es nicht ganz so leicht wie die Kollegen in manch anderen ESC-Teilnehmerländern. In Schweden oder Italien ist die Vorauswahl eng verknüpft mit beliebten Musikfestivals, für die sich eine große Zahl herausragender Künstler bewirbt. Das ist in Deutschland nicht so. Aber gerade dann muss sich der NDR freuen, wenn sich überhaupt einmal erfolgreiche Bands wie Electric Callboy bewerben und darf diese nicht wegen der falschen Musikrichtung ablehnen.

Die letzte deutsche ESC-Siegerin Lena nach ihrem Erfolg beim Eurovision Song Contest 2010 in Oslo.

Die letzte deutsche ESC-Siegerin Lena nach ihrem Erfolg beim Eurovision Song Contest 2010 in Oslo.

Foto: dpa/Jörg Carstensen

Noch gibt es in Deutschland eine große ESC-Begeisterung. Wenn er diese nicht vollkommen verspielen will, muss sich der NDR endlich erneuern, mutig sein und für 2023 Beiträge auswählen, bei denen Europa zumindest nicht einschläft. Das sollte doch möglich sein. Und wenn es damit dann nur zum drittletzten Platz reicht, wäre das im Vergleich doch schon ein Erfolg.

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