Stockholm Deutschland im Popularitäts-Tief

Stockholm · Im Eurovision Song Contest bleibt Deutschland mit dem Beitrag von Jamie-Lee glücklos. Zum zweiten Mal nacheinander reicht es nur für den letzten Platz. Den Sieg fährt die ukrainische Sängerin Jamala ein - mit einem umstrittenen Lied.

ESC 2016: Deutschland im Popularitäts-Tief
Foto: Radowski

Sie hat den Wettbewerb verloren, ist aber so etwas wie die Siegerin der Herzen. Trotz ihres letzten Platzes im Finale des Eurovision Song Contest (ESC) am Samstagabend in Stockholm steht Jamie-Lee Kriewitz kaum in der Kritik, weder bei Fans noch bei den Verantwortlichen. ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber bescheinigte der 18-Jährigen, mit ihrem Lied "Ghost" einen "Eins-A-Auftritt" hingelegt zu haben. Und die deutsche Sängerin erklärte, dass sie sich selber nicht die Schuld für das Debakel gebe. "Ich glaube, ich habe mir nichts vorzuwerfen", sagte sie. Gewonnen hatte der Song "1944" der ukrainischen Sängerin Jamala. In der dramatischen Ballade geht es um die Deportation ihrer Urgroßmutter von der Krim durch stalinistische Soldaten, was angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine durchaus als politisches Statement zu werten ist - auch wenn die Sängerin dies immer bestritten hat. Die Russen protestierten zwar im Vorfeld, das Lied wurde aber von ESC-Verantwortlichen geprüft und zugelassen.

Auch vor diesem Hintergrund hatte Jamie-Lee Kriewitz kaum eine Chance. Über weitere Gründe für das wiederholte schlechte Abschneiden des deutschen ESC-Beitrags - im vergangenen Jahr war Ann Sophie mit null Punkten ebenfalls auf dem letzten Platz gelandet - wird eifrig spekuliert. So mutmaßen Fans im Internet, es liege an Deutschlands Unbeliebtheit im Ausland oder an Merkels umstrittener Flüchtlingspolitik. Was Blödsinn ist. Eher hat es damit zu tun, dass hierzulande der Vorentscheid zum zweiten Mal hintereinander unglücklich verlief. Verzichtete im Vorjahr Andreas Kümmert auf sein ESC-Ticket, war es nun die später zurückgezogene Nominierung Xavier Naidoos, die für Wirbel sorgte. In beiden Fällen traten also am Ende Kandidaten an, die von außen vielleicht als zweite Wahl erscheinen mussten und Deutschland als arg verkrampft im Hinblick auf den ESC erscheinen lassen.

Zudem war Jamie-Lees Song nicht mal im eigenen Land ein echter Hit und ihre Zielgruppe - Fans japanischer Manga-Comics oder des koreanischen Pop - eher überschaubar. ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber erklärte denn auch, Jamie-Lee hätte mit "Ghost" eher sehr junge Zuschauer angesprochen, international und in allen Altersschichten hätte aber eher Unverständnis über das Manga-Mädchen aus Deutschland geherrscht. Vielleicht war die Schnittmenge außerhalb des Landes einfach zu gering. Ganze zehn Punkte bekam Jamie-Lee von den Zuschauern in Europa, nur einen von den insgesamt 41 Länder-Jurys - aus Georgien. Zum Vergleich: Siegerin Jamala erhielt insgesamt 534 Punkte. Dazwischen liegen Welten.

Musikalisch sind die Gräben allerdings weit weniger tief als das Ergebnis vermuten lässt. Der Siegersong "1944" ist sogar eher altbacken - ein von Elektrobeats unterlegter, sich zum Geheul steigernder Jammergesang, der sich kaum im Ohr festzusetzen vermag, untermalt von traditionellen musikalischen Instrumenten. "Ghost" kommt dagegen recht modern einher, genauso wie viele andere Songs des Abends, die tanzbar waren, eingängig und sogar rockig, und, ESC-typisch, auch schwülstig und bombastisch. Die guten Lieder kamen aus den Niederlanden, aus Frankreich, Belgien und Australien.

Vielleicht sollte sich Deutschland an diesen Nationen orientieren, wenn es darum geht, sich für den ESC im kommenden Jahr neu aufzustellen. Sich locker und authentisch präsentieren, mit einem schmissigen Song und einer zeitgemäßen Ästhetik. Ansonsten sind die Vorschläge der ESC-Gemeinde immer dieselben - man möge doch einen Schlagerstar schicken, Helene Fischer etwa, oder wieder bei Stefan Raab anklopfen, der auf eine beeindruckende ESC-Erfolgshistorie verweisen kann. Oder sich gleich für ein paar Jahre aus dem Wettbewerb verabschieden. Nur: Wer nicht mitmacht, kann nicht gewinnen. Und auch wenn die politische Diskussion den ESC in diesem Jahr dominiert, geht es letztlich nur um Musik, um Show, um eine große Party.

Die in diesem Jahr spannender war denn je. Zum ersten Mal wurden die Punkte von Jurys und Zuschauern gesplittet und getrennt verkündet. Das neue System hat sich damit auf Anhieb bewährt, müsste höchstens noch ein wenig gestrafft werden. Zwar konnte sich Australien bei den Jurys zunächst einen deutlichen Vorsprung erarbeiten, wurde dann aber kurz vor der Ziellinie durch die Zuschauerpunkte von der Ukraine eingeholt - vergleichbar mit einem Fußballspiel, in dem in der 90. Minute der entscheidende Treffer fällt. Interessant auch zu sehen, wie stark Jurys und Zuschauer in ihren Präferenzen voneinander abwichen. So fiel die dritthöchste Zuschauerwertung auf Polen - mit einem der schlechtesten Songs des Abends. Aufschlussreich auch, dass, anders als die jeweiligen Jurys, die Menschen in der Ukraine zwölf Punkte nach Russland gaben und die Russen zehn Punkte an die Ukraine. Zumindest das Volk steht sich versöhnlich gegenüber.

Was war sonst noch bemerkenswert an diesem Abend? Dass die schwedischen Gastgeber Måns Zelmerlöw und Petra Mede eine tolle, selbstironische Show geboten haben, was angesichts dieses so pop-affinen Landes nicht wundert. Dass die Punktevergabe zwar spannender geworden ist, das Finale aber deutlich verlängert - drei Stunden reichen vollkommen aus -, so waren es fast vier. Dass es an schrillen Inszenierungen und Künstlern fehlt, der auch von seiner Exotik lebende ESC aber nicht zu einem Dutzendwettbewerb verkommen darf. Dass Australien ebenfalls in Europa liegt und einer der nächsten Wettbewerbe wohl in Sydney oder Melbourne stattfinden wird.

Nun zieht der ESC-Tross in die Ukraine, wahrscheinlich nach Kiew. In ein Land, in dem seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 ein Konflikt schwelt, in ein Land im Kriegszustand also. Die Friedensverhandlungen sind festgefahren. Jamala hat mit ihrem Lied und dem Sieg die Aufmerksamkeit wieder auf diesen Konflikt gelenkt. Lösen können wird sie ihn nicht.

(RP)
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