Weltklasse-Geigerin Anne-Sophie Mutter im Interview "Einsam bin ich nur beim Joggen"

Essen · Die Geigerin Anne-Sophie Mutter spricht im Interview mit unserer Redaktion über alte und junge Stars, Neue Musik, die Konkurrenz in der Branche, den Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb, gute Ernährung und das Joggen an der Isar. Ihr Lieblingswunsch: ein Zwiegespräch mit Mozart.

Anne-Sophie Mutter kommt entspannt zum Interview ins Essener Sheraton-Hotel. Im Restaurant sind wir zum Essen verabredet. Die weltberühmte Geigerin (48) nimmt einen gemischten Salat als Vorspeise und dann ein Steak ("Medium, bitte") mit Gemüse. Das Mineralwasser darf nicht kalt sein.

Sie trägt Jeans, Sandaletten, ein T-Shirt und eine kurze schwarze Lederjacke. Demnächst kommt sie zu einigen Konzerten nach Nordrhein-Westfalen, so am 15. März in die Historische Stadthalle Wuppertal und am 27. Januar in die Düsseldorfer Tonhalle.

Die Geigerin Isabelle Faust hat Sie neulich als Monolithen in der Branche bezeichnet.

Anne-Sophie Mutter Das klingt so, als sei ich eine Antiquität.

So hat sie es nicht gemeint, eher wie jemand Einsamen auf einem Olymp.

Mutter Ob ich das bin? Einsam fühle ich mich gar nicht. Jedenfalls habe ich ja mehrere Generationen von Geigern erlebt. Bedenken Sie, ich habe noch David Oistrach gehört, Nathan Milstein, Henryk Szeryng, Yehudi Menuhin, Isaac Stern. Auf der anderen Seite kümmere ich mich vehement um den Nachwuchs. Ich habe gewiss meine Finger am Puls der Zeit.

In der Tat spielen Sie viel Neue Musik. Spüren Sie eine Mission, dem Publikum solche Stücke aufzuschließen?

Mutter Das klingt ja so, als würden wir alles kennen, was wir seit Jahrhunderten hören. Das ist ein Irrglaube. Vielmehr sind wir Interpreten auch Schlüsselverwalter für Beethoven, Mozart oder Brahms, nicht nur für Lutoslawski, Gubaidulina oder Rihm. Wir sind – auch wenn wir Schubert spielen – keine Wiederholer, wir sind Wieder-Erleber. Deshalb braucht es immer den differenziert denkenden Musiker, der ein Werk, auch wenn es altbekannt ist, neu auferstehen lässt.

Ist das manchmal sogar schwerer, als ein neues Werk zu spielen?

Mutter Unbedingt, denn beim Hören neuer Werke ist a priori eine gewisse Frische vorhanden – eben weil man es nicht kennt. Vielleicht packt einen Zuhörer ja auch das Faszinosum des neuen Fremden. Diese Faszination gelingt einem mit Schubert ungleich schwerer, bei dem mancher Interpret und mancher im Publikum vielleicht nicht mehr ganz genau hinhört nach dem Motto: Man kennt's ja schon.

Wenn Sie Schubert spielen, haben die Geigenfreaks im Saal fraglos drei, vier andere Aufnahmen im Kopf. Spielt man als Geiger immer gegen eine virtuelle Konkurrenz an?

Mutter Ich nicht. Mich interessiert nur meine Beziehung zum Komponisten und wo ich stehe in diesem Entwicklungsprozess. Nichts anderes darf zählen. Ich will nicht meine künstlerische Unbefangenheit und Unschuld dadurch verlieren, dass ich anfange, nach rechts und links zu gucken. Das Werk ist das zentrale Fragezeichen, für das ich Antworten finden muss.

Hören Sie überhaupt Aufnahmen anderer Künstler?

Mutter Nicht absichtlich, um eine Lösung zu suchen oder zu finden, sondern zuweilen einfach aus Neugierde.

Wen schätzen Sie besonders?

Mutter Das hängt sehr vom Repertoire ab. Ich beginne jetzt das Violinkonzert von William Walton zu studieren, das für Jascha Heifetz geschrieben wurde. Dass das so ist, hört man schon im ersten Takt, und natürlich scheint er der perfekte Interpret für diese Musik zu sein.

Und welchen lebenden Geigerkollegen schätzen Sie?

Mutter Gidon Kremer war immer ein Geiger, den ich bewundert habe und dessen Bach-Einspielungen ich für ein Lebenswerk halte, vor dem man sich nur verneigen kann.

Neulich haben sich zahllose junge Geiger sozusagen vor Ihnen verneigt: Sie waren Jurorin beim Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb.

Mutter Ja, zum ersten Mal. Die Geschichte dieses Wettbewerbs ist so wunderbar, dass ich meine Abneigung gegen Wettbewerbe mal für ein paar Tage überwunden habe.

Und wie war es? Hat die Jury harmoniert?

Mutter Es war fantastisch, einfach fabelhaft. Die Atmosphäre war sehr produktiv und getragen von dem Bemühen, die Geigenabteilung des Wettbewerbs auf einem Niveau zu halten und großen Geigern wie Victor Tretjakow die Ehre zu erweisen, der diesen Wettbewerb 1966 gewonnen hat. Da kann man den 1. Preis nicht einfach so vergeben, nur weil er vergeben werden kann. Man muss auf einem Absolutniveau bleiben.

Was hat die Jurorin Anne-Sophie Mutter in Moskau genau gemacht?

Mutter Mir war es wichtg, nach einem Talent zu suchen, das andersartig ist. Wenn man anfängt, sich nur auf das rein Technische, objektiv Messbare zu konzentrieren, ist die Gefahr groß, dass ein großes Talent unerkannt bleibt. Das beste Beispiel ist Ivo Pogorelich. Seinetwegen beendete eine berühmte Jurorin 1980 ihre Mitwirkung beim Warschauer Chopin-Wettbewerb, weil Pogorelich nicht ins Finale kam. Sie hielt ihn für ein Genie und hatte Recht.

Sie meinen Martha Argerich.

Mutter Ja, genau. Eine wahrhaft große Künstlerin.

Diesmal gab es in Moskau nur einen geteilten 2. Preis bei den Geigern.

Mutter So ist es. Und auch dabei haben wir an einem Strang gezogen.

Haben Sie mit den Teilnehmern mitgezittert, mitgefiebert?

Mutter Als Geiger spielt man immer mit. Am Ende jedes Abends war ich fix und fertig. Es ist extrem anstrengend und irgendwie auch ein undankbarer Job.

Juroren sollten also bei Kondition bleiben. Wie halten Sie sich gesund?

Mutter Ich esse ab und zu Salat. Ansonsten mit Gottes Hilfe.

Was macht der genau?

Mutter Ich hoffe auf ihn. Joggen alleine reicht wohl nicht.

Sie laufen?

Mutter Ich renne. Ich liebe Bewegung überhaupt, ich liebe die Natur. Mich kostet es überhaupt keine Überwindung, täglich mit meinen Hunden durch Parks zu jagen.

Kein Yoga? Kein Autogenes Training?

Mutter Bisher nicht, obwohl es – wie auch die progressive Muskelentspannung – sehr interessante Ansätze sind. Für mich ist schon der Aufenthalt in der Natur Erholung und Entspannung. Etwa in einem japanischen Garten zu sitzen. Oder unter einem Baum zu hocken und in die Isar zu starren. Das ist mein Autogenes Training. Dafür muss ich mich nicht auf eine Gummimatte legen. Aber wer weiß, vielleicht nehme ich das noch mal in Angriff.

Haben Sie eine feste Strecke, die Sie laufen?

Mutter Ich laufe oft an der Isar, da gibt es wunderschöne Wege, die kilometerlang völlig einsam sind.

Mit Sonnenbrille, wegen Ihrer Bekanntheit?

Mutter Nein.

Aber die Leute kennen Sie alle und ziehen den Hut. Ist das nicht lästig?

Mutter Nein. Ich sehe das sehr entspannt.

Wenn Sie in einem Moment maximaler Entspannung Ihren hilfreichen Gott bitten könnten, dass er Ihnen einen von den großen Meistern herunterschickt: Wer sollte dann wie ich jetzt neben Ihnen Platz nehmen?

Mutter Ich würde den Nächstliegenden wählen: Mozart.

Mit dem hat bei Ihnen ja alles Öffentliche angefangen, als Sie die Violinkonzerte unter Karajan spielten.

Mutter Aber es ist nicht der verbindende Punkt, dass ich früh Mozart gespielt habe. Vielmehr macht er einen immer so bescheiden, wenn man ihn spielt.

Viele Musiker gestehen, fast Angst vor ihm zu haben.

Mutter Vielleicht weniger Angst, sondern sie spüren eine tiefe Demut und Herausforderung.

Ist es Mozarts geheimnisvolle Schlichtkeit, die uns so viel Respekt einflößt?

Mutter Ja bestimmt, und auch Mozarts Sparsamkeit, gerade in seiner Art, für die Geige zu schreiben. Man fühlt sich bloßgestellt.

Fühlen Sie sich bei Mozart nackt?

Mutter Ich fühle mich als Musiker immer nackt, als Interpret auf der Bühne gibt man alles. Es bleibt nichts verborgen. Bei Mozart ist eine besondere Form der Konzentration vonnöten. Bei Mozart habe ich vorher immer ein leicht flaues Gefühl im Magen – und bin hinterher umso dankbarer, wenn es gelingt.

(RP)
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