Legendäre Kritikerin Ingeborg Schober öffnete die Tür zur Zukunft

Düsseldorf · Sie gilt als erste Rockkritikerin Deutschlands. Und sie schrieb in einem von Männern dominierten Milieu. Nun erscheinen Ingeborg Schobers beste Texte aus den 1970er Jahren als Buch.

 Ingeborg Schober in den 1990er Jahren in München.

Ingeborg Schober in den 1990er Jahren in München.

Foto: Reiffen Verlag/Gabriele Werth

Warum klingt es am Rhein so schön? Im Jahr 1979 reiste Ingeborg Schober nach Düsseldorf. Sie wollte über die dortige Szene schreiben, über die Tradition, in der Bands wie La Düsseldorf und Kraftwerk standen und ihre Elektronik-Popsongs produzierten. Schon bei der Ankunft im Hotel meinte sie eigentümliche Töne und Klänge zu vernehmen und die „Wellen und Schwingungen“ dieser Stadt zu spüren. „So elektrisiert habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt“, schreibt sie. „Nicht nur, weil ich beim Öffnen und Schließen der Zimmertür ständig eine gewischt bekomme.“

 Die 2010 gestorbene Ingeborg Schober aus München gilt als erste Rockkritikerin Deutschlands. Soeben erschien ein Sammelband mit ihren besten Texten aus den 70er und frühen 80er Jahren. „Die Zukunft war gestern“ heißt er, Gabriele Werth hat ihn herausgegeben, und zwischen die Artikel, die Schober in Zeitschriften wie „Sounds“ und den bei Rowohlt in Buchform  verlegten „Rock Sessions“ veröffentlichte, stehen Statements von berühmten Fans. Bela B. von den Ärzten bezeichnet sie als „Star“. Sandra Maischberger spricht von ihr als Person, zu der man habe aufblicken können, weil sie „die einzige Frau in diesem Männerhaufen“ gewesen sei.

 Und das ist die zweite Geschichte, die dieser lesenswerte Band erzählt: wie männlich die Rockmusik der 1970er Jahre war. Und wie langsam sich daran etwas änderte. Tatsächlich dürften den meisten beim Stichwort Rockkritik zunächst Leute wie Robert Christgau, Greil Marcus, Lester Bangs und Nick Kent einfallen. Alles Männer. Es war ein Spiegel dessen, was man auf der Bühne erlebte. Man muss nur mal die Worte „Led Zeppelin“ und „Jeans“ bei der Google-Bildersuche eingeben: Uuuuh. Künstlerinnen wie Janis Joplin waren die Ausnahme. Und selbst die wurde aufs Korn genommen: „Die Kritiker vergewaltigten sie mit Worten“, heißt es in Lillian Roxons „Rock Encyclopedia“. Und Ellen Willis, die so etwas wie die amerikanische Ingeborg Schober war, bilanzierte, dass Rockmusik Frauen nicht dasselbe Versprechen auf soziale Rebellion und sexuelle Befreiung gab wie Männern. Die 2006 gestorbene Willis war 1968 die erste Rockkritikerin des Magazins „New Yorker“. Später gründete sie den Studiengang „Kulturjournalismus und Kritik“ an der New York University.

 Ingeborg Schober gelang es, in diesem Milieu aufzusteigen, weil sie rasch einen eigenen Ton gefunden hatte. Wahrscheinlich orientierte sie sich an den Strategien des „New Journalism“, als sie begann, in der ersten Person zu schreiben und nicht bloß zu berichten, sondern das Protokollierte sogleich einzuordnen und augenzwinkernd zu kommentieren. Sie verbrachte oft mehrere Tage mit Künstlern und pflegte einen menschlichen Blick auf die Phänomene: Man vertraut sich ihrer sympathischen Erzählerstimme gerne an. Sie wählte die Form ihrer Texte mit Blick auf ihren Gegenstand. Ihr Stück über Kate Bush etwa kam 1978 als Märchen verkleidet daher: „Es war einmal ein Buschwindröschen namens Käthchen, das lebte 19 Jahre lang still und unentdeckt im fernen England.“

 Schober verstand Rockmusik nicht als Geheimwissenschaft, ihr galten Stil und Geschmack nicht als Distinktionsmerkmale. Sie blieb Fan, ohne je unkritisch anzuhimmeln. Was ihre zum Teil mehr als 40 Jahre alten Texte noch heute lesenswert macht, ist diese Euphoriebereitschaft. Sie suchte das Neue, und wenn sie es gefunden hatte, ging sie in Flammen auf. Sie verehrte Brian Eno und Roxy Music. Sie schrieb über die Verzweigungen des Krautrock, gab ein Buch über die Rockkommune Amon Düül heraus, das den Titel „Tanz der Lemminge“ trägt. Und wie sie über Kraftwerk schreibt, wirkt in einer Zeit, da man über diese Gruppe zumeist Texte im Stile von Heiligenverehrungen zu lesen bekommt, angenehm geerdet. Nach einem Tag mit Ralf Hütter in Düsseldorf seufzt sie: „Elektronischen Lebensstil nennt Ralf das, und ich finde es ganz toll. Bis ich in meinem vollklimatisierten und automatischen Hotelzimmer zurück bin, einen elektrischen Schlag auf die Finger bekomme, mir das Summen der Klimaanlage auf die Nerven geht, und der Fernseher ungerührt Farbsprünge und laufende Bilder produziert.“

 Die Champions League des Pop bilden heute Frauen. Taylor Swift, Beyoncé, Adele. Selbst im Deutschrap, einem besonders breitbeinigen Musikgenre, regieren inzwischen Frauen, wie der Erfolg von Shirin David zeigt und der Auftritt von Bushidos Ehefrau Anna-Maria-Ferchichi in der Dokuserie „Unzensiert – Bushido’s Wahrheit“ belegt. Während der Rapper nah am Wasser gebaut ist, ergreift sie die Initiative und schützt ihn gegen die Übergriffigkeiten der harten Clan-Jungs. Auch die besten Rock-Bücher wurden zuletzt von Frauen geschrieben, man nehme nur die Erinnerungen von Kim Gordon (Sonic Youth), Viv Albertine (The Slits) und Tracey Thorn (Everything But The Girl).

 Ingeborg Schober darf so gesehen durchaus als Türöffnerin gelten. Wie die Geschichten vieler Pionierinnen endete ihre jedoch tragisch. Nach langer Krankheit starb sie im Alter von 63 Jahren verarmt im Hospiz.

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