Digital Concert Hall Die digitale Philharmonie

Berlin (RP). In dieser Woche öffnen die Berliner Philharmoniker ihr Internet-Portal "Digital Concert Hall". Alle Konzerte sollen dann live zugänglich sein – von jedem Ort der Welt aus. Der Kunde kann verschiedene Modelle wählen: das Abonnement für alles, das Einzelticket oder nur den Archiv-Zutritt.

Berlin (RP). In dieser Woche öffnen die Berliner Philharmoniker ihr Internet-Portal "Digital Concert Hall". Alle Konzerte sollen dann live zugänglich sein — von jedem Ort der Welt aus. Der Kunde kann verschiedene Modelle wählen: das Abonnement für alles, das Einzelticket oder nur den Archiv-Zutritt.

Wenn der Bürgermeister von Honiara (Hauptstadt der Salomonen-Inseln im Pazifik) morgens um 6 Uhr nicht mehr einschlafen kann, weil sein kommunaler Haushalt ebenso verheerend ist wie der von Oberhausen, kann ihm künftig musikalische Tröstung aus Berlin zuteil werden — im Internet.

Die Berliner Philharmoniker gehen am Mittwoch nicht nur online, sie eröffnen die "Digital Concert Hall" — und damit jedermann weiß, was damit gemeint ist, zeigt ein Hochglanz-Prospekt die ehrwürdige Berliner Philharmonie vor Bergesgipfeln. Sie stehen in den Alpen am Königsee, es könnten aber auch die Rocky Mountains oder der Himalaya sein. Jedenfalls handelt es sich um einen globalen Auftritt: Räumlich findet er in Berlin statt, und die Welt darf live teilhaben. Wenn es in Honiara 6 Uhr früh ist, dann ist Berlin zehn Stunden zurück, beste Konzertzeit: Um 20 Uhr beginnt dort das Symphoniekonzert — und für zwei Stunden ist jede Zahlungsunfähigkeit vergessen.

Man muss sich die "Digital Concert Hall" als die finale Ausreizung technischer Möglichkeiten von TV und Internet vorstellen. Mitnichten geht es mehr darum, dass das Orchester seinen Mozart vor allem schön spielt — nein, jetzt kommt er dank der Mithilfe "erfahrener Bildregisseure und Tonmeister" im Flash-H.264-Standard daher; man kann sich dem Wolferl auf läppischen, amateurhaften DSL-Leitungen nähern (500 Kbit/s für 1000 DSL) oder auf köstlichem HDTV-Niveau (3000 Kbit/s ab 6000 DSL).

Immer lockt die Gewissheit der Werbestrategen des Orchesters: "In der Digital Concert Hall entgeht Ihnen keine Klangnuance und kein Bogenstrich." Die Berliner Philharmoniker wissen natürlich, dass Klassikfans oft sehr konservative Gemüter sind, deshalb geben sie sich warmherzig und lieb: "Selbstverständlich müssen Sie für den Zugang zur Digital Concert Hall kein Computerexperte sein. Die Handhabung ist ganz leicht und erschließt sich intuitiv. Schauen Sie einfach vorbei!"

Hat der Kunde herausgefunden, auf welchem medialen Weg er sich Berlin und seiner Philharmonie nähern will, muss er sich sodann entscheiden, was er überhaupt will: Möchte er ein Saison-Abonnement, bei dem er unbegrenzt oft sämtliche Live- und Archiv-Aufzeichnungen genießen kann? Oder will er ein einmaliges "Konzert-Ticket", bei dem er zu Gast bei einer ausgewählten Live-Übertragung ist? Favorisiert er das "On-demand-Ticket", mit dem er zwei Tage lang eine Archivaufnahme so oft anschauen kann, bis er sie auswendig drauf hat?

Diese totale Verfügbarkeit von orchestraler Präsenz atmet Gigantomanie und hat etwas Tolldreistes: Mit dieser enzyklopädischen Maßnahme tun die Berliner Philharmoniker so, als sei jede ihrer Taten ausstrahlens- und archivierenswert; sie protzen mit einem Selbstbewusstsein, das zu keiner Sekunde ein Mikrofon, eine Kamera fürchtet. Spielfehler im konzertanten Live-Moment hält man zu Recht für flüchtige Flecken, die zur Musik dazugehören — das ist ein sympathischer Zug des Unternehmens. Trotzdem wird das Orchester zum durchleuchteten Apparat, bei dem kein Pauker mehr heimlich gähnen kann, wenn sich ein langsamer Bruckner-Satz hinschleppt. Big Brother is watching him — am Regiepult. Dagegen war der mediensüchtige Karajan ein Waisenbub.

Die Frage ist, ob dieses Angebot Auswirkungen auf den Berliner Kartenverkauf hat. Wahrscheinlich nicht: Die Philharmoniker sind sowieso immer überlaufen. Die Berliner Kritiker können indes zum Schreiben gleich in der Redaktion bleiben. Zugleich sind die Zeiten vorbei, dass Orchester ihre mediale Vermarktung in fremde Hände legen. Die Deutsche Bank als Hauptsponsor hilft, dass das Internetportal berliner-philharmoniker.de zur Marke weltweit wird, die jede Sehnsucht stillt, jede Sorge lindert — auch bei Zahlungsunfähigkeit.

(RP)
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