Alltagsgeräusche Soundtrack des Lebens

Alltagsgeräusche werden unterschätzt. Dabei wirken sie viel stärker auf uns als unsere Lieblingsmusik. Wir sollten versuchten, die Klangkulisse des Lebens als Sinfonie zu begreifen. Ein Essay.

 Ich lag auf dem Sofa und tat nichts. Nichts außer: hören.

Ich lag auf dem Sofa und tat nichts. Nichts außer: hören.

Foto: GRAFIK: FERL, ISTOCK

Im Mai war das, am Samstagnachmittag. Ich war allein zu Hause, und ich lag auf dem Sofa. Die Sonne heizte das Zimmer auf. Und sie schickte so grelle Strahlen durchs geöffnete Fenster, dass ich die Augen schloss. Ich tat: nichts. Nichts außer: hören. Ich hörte Geräusche, die mir früher nicht aufgefallen waren. Geräusche des Lebens und des Alltags. Und ich dachte daran, dass diese Geräusche ja ständig da sind, ich sie aber fast nie wahrnehme. Dabei haben sie vielleicht eine stärkere Wirkung auf uns als unsere Lieblingsmusik.

Ich fragte mich: Kann man sein Leben an Geräuschen entlang erzählen? Eine Geräuschbiografie verfassen? Und sind die Geräusche, mit denen wir leben, zu denen wir leben und in denen wir leben, nicht unterbewertet, wenn wir sie bloß „Geräusche“ nennen? Müsste man ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen – schließlich sind sie Teil unserer Existenz? Sollte man ihr Zusammenspiel lieber als Sinfonie begreifen? Als Sinfonie des Alltags?

Ich wollte das mal ausprobieren: die Geräuschkulisse als Sinfonie wahrnehmen. Deshalb versuchte ich von „hören“ umzuschalten auf „zuhören“. Die Komponistin Pauline Oliveros hat viel über diesen Unterschied nachgedacht. Sie unterschied zwischen Hearing und Listening: „Hören ist die körperliche Fähigkeit, die Wahrnehmung möglich macht“, sagte sie. Und: „Zuhören heißt, allem Aufmerksamkeit zu schenken, was man sowohl akustisch als auch psychologisch wahrnimmt.“ Ihr Ideal nannte Oliveros „Deep Listening“. Sie wollte, dass man tief eintaucht ins Zuhören, sich darin versenkt, buchstäblich ganz Ohr wird.

Deep Listening, dachte ich auf meinem Sofa, das will ich auch. Ich hörte also zu, ich saß da und achtete auf Geräusche. Ich schrieb sogar ein Soundprotokoll. Und das klingt so:

Samstag, 30. Mai 2020, 16.16 Uhr

Den Grundbass liefert das Geräusch eines elektrischen Geräts. Fernseher im Standby-Modus? W-Lan-Router auf Sendung? Man muss still sein, um es zu hören, aber nicht, weil es so leise ist, sondern weil es sich so gut einfügt in die Szenerie. Es wirkt natürlich, es birgt mich: Ein Brummen ist das nicht, ein Knistern auch nicht. Ein Rauschen nicht und kein Surren. Aber von allem etwas. Dazu Schritte aus der Wohnung über uns. Anfahrende Autos draußen, deren Geschwindigkeit sich leise steigert, voluminöser wird, in größerer Entfernung verebbt. Wie wattiert das Zuschlagen einer Autotür. Ein Motorrad wird ausgeschaltet. Erst als das Geräusch fehlt in der Soundkulisse, merke ich, dass es da war. Weil das Ohr erst irritiert ist und dann aufzuatmen scheint. Stimmen wehen herein, aber man versteht keine Worte, erkennt keine Sprache, nur den Menschen als Urheber. Das Knacken des Fensterrahmens, der von der Sonne aufgeheizt wird und unter der Hitze ächzt. Das Krachen der Eiswürfel in der Cola. Die Eiswürfel klimpern gegen den Rand des Glases, wenn unten die Haustür ins Schloss fällt und das Gebäude kurz erschüttert wird. Kinderstimmen, in den Höhen leicht verblassend. Das feine Platzen der Kohlensäurebläschen, das man mit kleingeschriebenen Konsonanten in Schrift nachbauen könnte und das bald nicht mehr wahrzunehmen ist. Jemand tritt auf einen losen Gullydeckel.

Was ich merkte: Es ist nicht so leicht, sich auf Geräusche zu konzentrieren und sie zu unterscheiden. Noch schwieriger ist es, sie zu beschreiben. Ausdrücke und Bilder für sie zu finden. Vor allem, wenn man nicht bloß ihre Quelle nennen möchte. Das Geräusch des Regens als „Regen“ zu bezeichnen, ist einfach. Schwieriger ist es, das Rauschen, Tröpfeln, Platschen zu beschreiben. Es ist kompliziert, die Sprache der Geräusche zu sprechen.

 Das Geräusch des Regens als „Regen“ zu bezeichnen, ist einfach. Schwieriger ist es, das Rauschen, Tröpfeln, Platschen zu beschreiben.

Das Geräusch des Regens als „Regen“ zu bezeichnen, ist einfach. Schwieriger ist es, das Rauschen, Tröpfeln, Platschen zu beschreiben.

Foto: dpa/Kira Hofmann

Vor Kurzem ist ein Roman erschienen, bei dem es genau darum geht. „Vom Rauschen und Rumoren der Welt“ von Belinda Cannone handelt von einem Kind, das mehr und genauer hört als andere. Es trifft auf einen Erwachsenen, dem es genauso geht, und der unterrichtet es im Zu- und Hinhören. Darin, „mit freundlichen Ohren zu sehen“, wie es in dem Buch heißt. Der Erwachsene weiß, dass „die Geräusche angenehmer und weniger aggressiv wären, wenn sie sie unterscheiden, sortieren könnten“. Die beiden erfinden eine eigene Sprache, um Geräusche sichtbar zu machen. Sie besteht aus Lautmalereien wie „Kruitsch, Zblunn, Zzzirett und Ruihs“.

Geräusche sind unterschätzt. Viele Komponisten und Musiker haben das schon vor langer Zeit erkannt. Luigi Russolo kündigte in seinem 1913 veröffentlichten futuristischen Manifest „L’arte dei rumori“ die Geräuschkunst als Musik der Zukunft an. „Es ist nötig, aus diesem beschränkten Kreis von reinen Tönen auszubrechen und die unendliche Vielfalt der Geräusch-Töne zu erobern“, forderte Russolo. Er wird von vielen heute produzierenden Musikern als Inspiration genannt und gilt als Wegbereiter der synthetischen Musik.

Das wäre überhaupt etwas, was man noch schreiben müsste: eine Musikgeschichte des Geräuschs.1920 komponierte Erik Satie die „Musik als Möbel“, die als Frühform der Ambient Music angesehen werden kann. Es sollte Musik sein, in der man leben kann und die erst durch Alltagsgeräusche wie das Klappern von Besteck und Stimmen vollständig wird.

Das erste Album, das man tatsächlich als Symphonie von Alltagsgeräuschen bezeichnen könnte, erschien im Jahr 1975. Es heißt „Neighborhoods“. Sein Schöpfer, Ernest Hood, hatte eine Radiosendung, und für die nahm er Sounds aus der Nachbarschaft auf und sendete sie als „Audio-Postkarten“: Kinderstimmen, Vogelgezwitscher, Hundegebell, Fahrradklingeln, Baulärm und so etwas.1974 begann er, die Geräusche in seine Synthesizermusik zu weben. So entstand „Neighborhoods“, das die Geräuschkulisse seiner Kindheit wie in Bernstein einschließen sollte.

Ähnlich wie Ernest Hood ging Stevie Wonder vor, als er 1979 das Album „Journey Through The Secret Life Of The Plants“ produzierte. Es liefert den Soundtrack zu einem esoterischen Dokumentarfilm über Pflanzen und wie sie auf Menschen reagieren und mit dem Kosmos kommunizieren. Stevie Wonder wob Kinderstimmen und Dialogfetzen in die Musik hinein. Er wollte mittels Alltagsgeräuschen eine tiefere Verbindung zu der Lebenswelt seiner Hörer aufbauen. Er wollte sie in sein Thema ziehen, in seine Vorstellungswelt. Die Platte gilt heute als Pioniertat, wurde damals aber böse verrissen.

Konzeptionell und ästhetisch noch konsequenter als Stevie Wonder ging 2011 Mat­thew Herbert vor, als er den Lebensweg eines Schweins nachzeichnete. Von der Geburt bis zum Teller. „One Pig“ heißt das Album, das manchmal wie der Soundtrack zu einem Horrorfilm anmutet. Herbert verwendete Körperteile des Schweins zur Tonerzeugung, er dokumentierte das Quieken bei der Schlachtung und danach die abendliche Runde, in der das gebratene Fleisch aufgetischt wurde.

Was mir an jenem Samstag aufgegangen ist, als ich auf dem Sofa lag und zuhörte, ist dieses: Über Geräusche kann man Milieus definieren. Orte genau beschreiben. Und sogar Leben nacherzählen. Ein bisschen wie die Spezialisten im Fernsehkrimi, die Anrufe von Entführern auswerten, um anhand der Hintergrundgeräusche die entführte Person zu lokalisieren.

Die Musikkritikerin Lindsay Zoladz wunderte sich in einem Essay in der „New York Times“ über die veränderte Klangkulisse in Brooklyn während des ersten Lockdowns. Sie vermisste das Kindergeschrei auf den Spielplätzen und sogar den Baulärm. Stattdessen nahm sie nun die Sirenen der Krankenwagen wahr, die zum Brooklyn Hospital Center fuhren. Sie empfand das als bedrohlich. Sie sehnte sich nach dem alten Sound ihrer Stadt zurück. Und sie erkannte, dass Geräusche Geborgenheit vermitteln können. Und dass es nicht friedlich sein muss, wenn sie fehlen. Im Gegenteil.

Es lohnt sich also, genau hinzuhören auf die Geräusche. Wir erfahren etwas über uns. Über unsere Leben. Und wer sich die Mühe macht, die Geräusche zu benennen, lernt, diese präziser wahrzunehmen. Vor allem jetzt, da die Welt sich anders anzuhören scheint: Wie klingt es beispielsweise, wenn man in eine Papiermaske atmet?

Manchmal erkennt man dabei die Schönheit der Geräusche. Ihre Musikalität. Den Rhythmus und den Groove. „Jede Äußerung unseres Lebens wird von Geräuschen begleitet“, schrieb Luigi Russolo. „Das Geräusch ist also unserem Ohr vertraut, und es hat das Vermögen, uns das Leben selbst zurückzurufen.“

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