Vor 200 Jahren geboren Chopin und der ferne Klang

Paris (RP). Er befand sich auf Konzertreise, als sein Schicksal besiegelt wurde. Frédéric Chopin, der genialisch begabte Pianist und Komponist aus Polen, trat 1829 während seiner Europatournee in Wien und Paris auf, als ihm sein Vater dringend riet, wegen der polnischen Aufstände gegen die russische Fremdherrschaft nicht in die Heimat zurückzukehren; sie lag unter dem Feuer der verhassten "Moskowiter".

So kam Chopin, heute vor 200 Jahren geboren, 1831 mit wehem Herzen und vereinsamt nach Paris und fühlte sich doch wohl. Ihn umfing die Sogkraft des aristokratischen Salons — ihn, den Sensibilissimus, der anders war als die Virtuosen vom Schlage eines Liszt oder Moscheles. Der zarte Chopin war die Noblesse in Person, ein Mann mit erlauchter Klavierkultur — auf diesen Feingeist mit dem kühnen Schwung in der Musik flogen die Damen der Gesellschaft. Heinrich Heine stellte fest: "Chopin ist der Liebling jener Elite, die in der Musik die höchsten Geistesgenüsse sucht. Sein Ruhm ist aristokratischer Art."

Chopin indes unterhielt sich am liebsten mit seinem Klavier, es blieb lebenslang sein zuverlässigster Gesprächspartner. George Sand, seine exzentrische Freundin für begrenzte Zeit, berichtete einmal, Chopin habe stundenlang phantasierend am Klavier gesessen. Dann wieder saß er tagelang über Notenblättern und komponierte, redigierte, löschte aus. Als Komponist war Chopin ein Pedant, was in einem fast paradoxen Anspruch mündete: Das Fertige sollte wie improvisiert klingen. Dass es gelang, ist der Ausdruck seines einzigartigen Künstlertums.

Wo Chopin sich in formalen Abläufen wie Sonaten bewegte, spürt man nie die Macht einer Matrize. Chopin war groß darin, Prozesse selbst zu erschaffen, weswegen Neubildungen wie Balladen, Scherzi oder Impromptus zwar Verwandtschaft mit traditionellen Mustern zeigen, aber doch eigenwillig gestaltet sind. Überhaupt war Chopin ein Meister der Innovation, ein wahrhaft futuristischer Geist. In der Etüde gis-moll op. 25 denkt der Hörer nicht an Virtuosität, sondern an Molekülketten, die durch fremde harmonische Räume rasen.

Chopin in Frankreich — das war eine fast perfekte Symbiose, wenngleich sein Herz oft in die Heimat horchte. Indes, der Komponist besaß die Gabe, Polen auf seine Weise zu sich zu holen. In seinen Mazurken oder Polonaisen sahen Chopins Zuhörer authentische Zeugnisse seiner Herkunft, spürten sie den Zauber exotischer Folklore, der im Juwelierladen des herrschenden "style brillante" an Glanz noch gewonnen hatte. In Wirklichkeit ist hier die Musik Polens oft nur noch in rhythmisch-melodischen Spurenelementen anwesend: Chopin, das Verarbeitungsgenie, hatte sie bereits aufs hohe Niveau der Kunstmusik befördert, in der andere Prozesse betrieben wurden als nur die Verschriftlichung persönlicher Sehnsüchte. Chopin war fraglos ein empfindsamer, tief gründelnder Mensch, der als Entwurzelter zu den stärksten Emotionen fähig war — doch seine Musik ließ er das Heimweh nie spüren.

In diesem dem Klavier gewidmeten Leben gab es nur eine Kraft, der sich Chopin beugte: seiner Krankheit. Vermutlich litt er an Tuberkulose, wobei die Symptome auch für Mukoviszidose sprechen — jedenfalls für eine Lungenkrankheit, die sein Leben in immer stärkeren Schüben in den Griff bekam. Der legendäre Mallorca-Aufenthalt von 1838 war nur kompositorisch produktiv. Chopin starb in Paris im Oktober 1849. Sein Grab befindet sich auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise, sein Herz jedoch in der Warschauer Heiligkreuzkirche, dies war sein letzter Wunsch gewesen.

In seinen kühnsten musikalischen Momenten inszeniert Chopin einen für seine Zeit wahrhaft fernen Klang. Er bestand in der höchsten Verdichtung von Musik, erweiterte ihre Ausdrucksräume verkürzte ihre Dauer rigoros. Der Komponist Anton Webern, selbst ein überstrenger Miniaturist, wusste, warum er ausgerechnet Chopin so liebte: Jedes Prélude ist eine Sekundenoper ohne Libretto.

(RP)
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