Verleihung der "1Live Krone" Ich bin zu alt für diesen Sender — und das ist okay

Bochum · Die 16. Verleihung der " 1Live Krone" fiel zusammen mit dem 20. Geburtstag des Radiosenders. Unser Autor war vor Ort – verwirrt und überfordert, aber er machte schließlich seinen Frieden damit.

Einer der begehrtesten Radiopreise Deutschlands: die "1Live Krone".

Foto: dpa, cas bsc skm

Die 16. Verleihung der "1Live Krone" fiel zusammen mit dem 20. Geburtstag des Radiosenders. Unser Autor war vor Ort — verwirrt und überfordert, aber er machte schließlich seinen Frieden damit.

Ich verstehe das nicht. Das alles. Dass man Musikpreise verleiht natürlich schon, und auch dass man das in einer Live-Show in der ehrfurchteinflößenden Jahrhunderthalle Bochum tut. Und dass man die Tickets dafür an seine Hörer verlost, wochen- und monatelang (auch wenn es nervt, wie die Promo-Offensive insgesamt, Stichwort "der beste Tag des Jahres!"). Und besonders, dass man netterweise die Käufer (und Streamer) dieser Musik selbst über die Gewinner abstimmen lässt.

Was ich nicht verstehe ist, dass das heutzutage zwingend "voten" heißen muss, und Unterstützung "Support" und die Fans "Community". Oder, dass mit dem Videopreis niemand für ein Musikvideo ausgezeichnet wird, sondern ein "YouTuber". Und dass es das wirklich gibt, diese Hysterie ohne Grund, dass alle kreischen und fast in Ohnmacht fallen, aber darüber nie vergessen zu twittern und instagrammen und periscopen und snapchatten und Selfies zu machen mit dem unangestrengtesten und unbeeindrucktesten Gesichtsausdruck, den man mit aller Anstrengung hinbekommt, um damit Fremde zu beeindrucken.

Und dass man für eine Show, die um 20 Uhr beginnt, nicht um 19 Uhr anreist und auch nicht um 17.30 Uhr ("Anfahrt der Stars"), sondern um 13.15 Uhr, und dann twittert:

Und dann um 14.03 Uhr:

Und warum @1LIVE-Krone das dann zwar retweetet (was wiederum elf Retweets gibt und 111 Leuten, denen das gefällt), aber nicht selbst ein Herzchen dalässt für svea, die nicht @svea heißt, sondern @tagebvchpoesie, mit v als u, aus Gründen. Trauriges Emoji. Und dass vor Beginn der Show jemand im Chat neben dem Livestream vom Roten Teppich schreibt: "oh mein gott ich krieg so herzrasen, so viele stars auf einem haufen. das ist zu viel für mich" Und dass dieselbe Person eine Viertelstunde später fragt: "wieso sind da so viele unsympathen? ist einfach zu krass, famegeile nutten einfach nur". Das ist dann wohl dieses Digitale, Shitstorm oder Candystorm, dazwischen gibt‘s nix, zum Glück macht meist nur einer mit.

Und dass alle irgendwie gleich aussehen, Rapper und DJs und österreichische Schlagerfuzzis, mit ihren Unterhemden und Bärten und Augenringen, und dass coole Menschen wie Casper für das Tragen derselben Klamotten (hier: violettes T-Shirt, auf dem ein Wolf den Mond anheult) gefeiert werden, für die uncoole Kids eine Tracht Prügel befürchten müssten.

Am allerwenigsten verstehe ich vielleicht, dass die Jugendwelle des WDR, eben 1Live, Menschen im Alter von 14 bis 39 Jahren als ihre Zielgruppe anpeilt. Ich habe das gerade erst nachgeguckt und hatte fest mit einer "Obergrenze" von 25 oder maximal 30 gerechnet.

Aber all das ist völlig okay. Ich muss das alles nicht verstehen, und gefallen muss es mir erst recht nicht. Die jungen Leute haben ihre Lieblingsbands und -songs und -Hiphopper gewählt, und eben auch -YouTuber, davon geht die Welt auch nicht unter, und sie haben eine gute Show bekommen. Nach der "1Live Krone" wissen wir: Joris kann sehr gut singen, Cro überhaupt nicht — aber trotzdem gut, dass er "Schrei nach Liebe" von den Ärzten gleich zu Beginn der Show gesungen hat. Die Botschaft des Liedes ist aktuell wie nie angesichts von 222 Anschlägen auf Flüchtlingsheime im laufenden Jahr.

Was wir ebenfalls wissen: Ein Boy-Cover von "Feel Good Inc." ergänzt durch ein Best-Of von Fettes Brot funktioniert gegen jede Wahrscheinlichkeit. Und dass es sie noch gibt, die positiven Überraschungen: Kein Preis für Gangstarapquark oder DJ-Knöpfchengedrücke, mehrere für Menschen hinter intelligenten, ironischen, mehrdeutigen Songs. Marteria lässt sich von seinen fünf Schafen inspirieren. Ein anderer alter Mensch, nämlich Lena Meyer-Landrut, genau, die von vor fünf Jahren, wurde "Beste Künstlerin" — und "Bester Live-Act" K.I.Z., bei denen Provokation kein Selbstzweck bleibt.

Ich bin 29, also ein alter Mann, aber verbittert bin ich nicht. Im Gegenteil. Es geht mir wunderbar — unter anderem, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich der einzige Gast bin, der nicht nur hier und jetzt, sondern sogar überhaupt noch nie (never ever!) ein Selfie gemacht hat.

Darauf allerdings bilde ich mir irgendwie nicht nur ironisch, sondern tatsächlich etwas ein — ebenso wie darauf, nicht einmal nach einem Bändchen für die Aftershow-Party gefragt zu haben.

Außerdem mag ich Longboards, habe mir aber geschworen, erst eins zu kaufen, wenn es wieder out und die "Longboard-Tour" der YouTuber Dner, Simon Unge, Julien Bam (der Julien Bam, Video-Kronen-Gewinner 2015!) und Cheng Loew ("Das Highlight des Jahres 2014", www.longboard-vergleich.com) längst vergessen ist.

Womit der Beweis angetreten wäre, dass ich nicht so weit über den Dingen schwebe, wie als Ideal wünschenswert wäre. Auf meine Art bin wohl auch ich, in den Worten der Frau aus dem 1Live-Livechat mit dem Künstlernamen "oh mein gott daggi bee", eine "famegeile nutte einfach nur".

(tojo)