Missbrauchskomplex München Freising Im Akten-Dickicht der Missbrauchsaufklärung

Analyse | München · Die Missbrauchsaufklärung der katholischen Kirche in Deutschland wird mit einem neuen Gutachten am Donnerstag auf diese Fragen eine Antwort geben: Was wusste der emeritierte Papst Benedikt XVI.? Und welche Schuld trägt Kardinal Reinhard Marx? Ob es die Genannten be- oder entlastet, ist offen.

 Eine Protestaktion: Aktenordner von Missbrauchsbetroffenen stehen symbolisch vor dem Kölner Landgericht.

Eine Protestaktion: Aktenordner von Missbrauchsbetroffenen stehen symbolisch vor dem Kölner Landgericht.

Foto: Julia Steinbrecht/KNA/Julia Steinbrecht

Es geht vor allem um Betroffene. Natürlich um die Täter. Und um jene, die sie deckten, aus erschütternd falscher Solidarität oder auch erschreckender Gleichgültigkeit. Es geht um eine Institution, die sich der Seelsorge verschrieben hat und unter deren Namen Verbrechen besonders an Kindern begangen wurden. Im Zentrum von all dem und als Beispiel für all das stehen Peter H., ein Priester und mehrfacher Missbrauchstäter, Kardinal Reinhard Marx, amtierender Erzbischof von München und Freising, sowie Benedikt XVI., emeritierter Papst. Am Donnerstag nun soll in München ein neues Missbrauchsgutachten auch dazu Licht ins Dunkel bringen. Mit Spannung weltweit erwartet und zugleich von Skepsis begleitet.

Es beginnt bei Peter H, der als Diözesanpriester in Essen einen elfjährigen Ministranten missbraucht. Weitere sexuelle Übergriffe auf Minderjährige werden bekannt, bis er 1980 nach München geschickt wird. Dort soll er sich einer Therapie unterziehen. Eine Anzeige wird nicht erstattet. Stattdessen wird Peter H. in Oberbayern erneut in der Seelsorge eingesetzt und erneut straffällig. Diesmal verurteilt ihn ein Amtsgericht zu einer Strafe auf Bewährung. Er wird in eine andere Pfarrgemeinde versetzt, begeht wieder Missbrauchstaten, und obwohl er diese 2008 in einer Vernehmung einräumt, werden ihm erst 2010 dauerhaft alle Priestertätigkeiten entzogen.

 Der Blick fällt zunächst auf Benedikt XVI. Denn als Peter H. nach München kommt, ist Kardinal Joseph Ratzinger dort Erzbischof, also verantwortlich. Am 15. Juni 1980 nimmt der Kardinal an der Ordinariats-Sitzung teil, auf der die Aufnahme jenes Priesters beschlossen wird, der im Ruhrbistum aufgrund seiner Taten aus dem Dienst genommen worden war. Also hat Ratzinger – bis 1982 leitet er noch das Erzbistum – in voller Kenntnis der Sachlage einen Täter geschützt? Seitdem diese Frage immer nachdrücklicher gestellt wird, ist sein heutiger Privatsekretär, Kurienerzbischof Georg Gänswein, zum eifrigen E-Mail-Schreiber geworden. Darin ist dann immer wieder davon die Rede, dass der frühere Papst an keiner Ordinariats-Sitzung teilgenommen habe, in der die Vorgeschichte von Pfarrer H. zur Sprache kam. Folglich habe er keine Kenntnis haben können.

Das dürfte kaum zu widerlegen sein, zumal zum Umgang mit Missbrauchstaten eine Art „Chiffrierungskultur“ gehörte, wie der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke gegenüber dem „Bonner Generalanzeiger“ erklärte. Danach habe man oft von gesundheitlichen oder auch psychischen Problemen gesprochen, auch von „freundschaftlichen Verstrickungen“ oder „Unvorsichtigkeiten“ gegenüber Jugendlichen. Solche Codes hätten allen Eingeweihten als Schutz gedient. Auch Erzbischof Ratzinger? Dieser ist sogar doppelt entlastet worden, mit der Aussage des damaligen und heute über 90-jährigen Generalvikars Gerhard Gruber, der alle Verantwortung übernommen hat.

Zweifel sind dennoch geblieben. Zum einen werten es Kirchenrechtler als eine Pflichtverletzung, dass ein Erzbischof keine Kenntnis über die Vorgeschichte eines neuen Priesters haben konnte; zum anderen existiert ein 43-seitiges Dekret des Münchner Kirchenrichter Lorenz Wolf aus dem Jahre 2016. Sein Zustandekommen ist fast ein Kuriosum. Denn inzwischen hatten Kardinal Marx und Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck 2012 der Glaubenskongregation in Rom empfohlen, Peter H. aus dem Priesterstand zu entlassen. Das klingt nach einer endlich entschlossenen Lösung. Aber: Mit diesem Verwaltungsakt wäre der Fall, der wegen einer möglichen Mitverantwortung Ratzingers inzwischen bis in die „New York Times“ Aufmerksamkeit erregte, ein für alle Mal zu den Akten gelegt worden. Das gefällt dem Vatikan wiederum nicht. Und so ordnet der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller, an, wenigstens eine Dokumentation zu stellen. Nur nach Aktenlage, ohne weitere Zeugenvernehmung. Kirchenrichter Wolf macht sich also ans Werk und kommt zu dem Ergebnis: „Der damalige Erzbischof Joseph Kardinal Ratzinger und sein Ordinariatsrat waren in Kenntnis der Sachlage zur Aufnahme des Priesters H. bereit.“ Auf Voruntersuchungen wurde verzichtet, ein kirchliches Strafverfahren nicht eingeleitet.

Auch der Versuch von Kardinal Marx 2012, Peter H. aus dem Priesterstand zu entlassen, hinterlässt Fragen. Denn unter Erzbischof Marx war der Missbrauchstäter noch zwei Jahre im Dienst. Zudem gibt es ein erstes Missbrauchsgutachten für München und Freising aus dem Jahr 2010. Das ist – so die Formulierung – aus Datenschutzgründen nie veröffentlicht worden und liegt wohl behütet noch im Tresor des Erzbistums. Erstellt wurde es schon damals von der Münchner Kanzlei Westphal, Spilker, Wastl, die bemängelte, dass in den Akten „unabdingbare Dokumentationen, beispielsweise frühere Tätigkeiten der untersuchten Person oder der Gründe für den Wechsel der Diözese bei fremdinkardinierten Priestern weitestgehend“ fehlten. Auch diese Ungereimtheiten geben der Spekulation Nahrung, dass Kardinal Marx erneut persönliche Konsequenzen ziehen und nach Mai 2021 Papst Franziskus jetzt ein zweites Mal seinen Rücktritt anbieten könnte.

Fehlende Dokumente werden nicht wieder aufgetaucht sein, obgleich die Publikation des zweiten Gutachtens sich, wie es hieß, wegen neuer Aktenkenntnis immer wieder verzögerte. Fest steht, dass die neue Untersuchung für den Zeitraum von 1945 bis 2019 bisherige Studien im Umfang sprengen wird. Von 1600 Seiten ist die Rede, dabei soll allein der Missbrauchsfall des Priesters Peter H. 350 Seiten ausmachen. Auch Benedikt XVI. hat sich umfassend geäußert. Die Stellungnahme des 94-Jährigen umfasst 82 Seiten.

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