Frankfurt Die grandiosen Bilder vom Montmartre

Frankfurt · Das Schaffen der "Bohème", der unkonventionellen Lebenskünstler von Paris, feiert eine gigantische Schau in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Ein ganzes Stadtviertel wurde damals zum Treffpunkt weltberühmter Künstler.

Auf einem legendären Plakat, das Henri de Toulouse-Lautrec 1891 gestaltete, geht es hoch her. Im Vordergrund macht die Silhouette einer hageren Gestalt komische Verrenkungen. Es handelt sich um Valentin le Désossée — Valentin den Knochenlosen. Er ist der Tanzpartner einer im Rampenlicht stehenden Blondine, die ihre Röcke hochgerissen hat. Bekannt war sie unter dem Namen La Goulue — die Gefräßige. Schauplatz dieser Szene ist das bis heute berühmte Vergnügungslokal "Moulin Rouge" im Pariser Viertel Montmartre.

Montmartre war um 1900 ein Stadtteil voller Gegensätze: Schillernde Cafés, deftige Cabarets und finstere Spelunken boten für jeden Geschmack und Geldbeutel etwas. Sogar fromme Pilger fühlten sich angezogen: Sie besuchten die auf dem Hügel des Viertels thronende Kirche Sacré-Coeur, der Kees van Dongen 1904 ein Gemälde widmete.

Obendrein bot der Montmartre billigen Wohnraum, den nicht zuletzt zahlreiche finanzschwache Künstler bezogen. Das Schaffen dieser "Bohème" genannten unkonventionellen Lebenskünstler feiert eine Schau in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Kuratorin Ingrid Pfeiffer sagt zu dieser vibrierenden Zeit: "Das Viertel ähnelte einem riesigen Atelier." Zum Motiv wurden nicht nur Personal und Gäste der Vergnügungslokale, sondern Arbeiter, Wäscherinnen und andere Bewohner stiller Straßen und ländlicher Areale. Zu sehen sind über 200 Gemälde, Grafiken und Plakate, die von 26 berühmten und weniger bekannten Künstlern zwischen den 1880er Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschaffen wurden.

Die ländliche Seite des Vergnügungsviertels führt uns Vincent van Gogh im Gemälde "Montmartre: Hinter dem Moulin de la Galette" (1887) vor Augen. Mit leuchtenden Farben hat er im Vordergrund Gärten dargestellt. Hellblau wogt in der Ferne das Häusermeer. Van Gogh verband eine enge Freundschaft mit Toulouse-Lautrec, dessen Spezialität die Darstellung des Personals der Vergnügungsetablissements war. Sein Gemälde "Ruhende Frauen" (1895) nimmt uns mit ins Bordell. Statt knisternder Erotik herrscht Betriebsruhe: Mit freundlichem Blick wendet sich uns eine im rosa Nachthemd auf dem Bett sitzende Dame zu, während sich die hinter ihr liegende Rothaarige abgewandt hat. Geradezu furchterregend wirkt hingegen die von Georges Rouault gemalte "Frau mit roten Haaren" (1908).

Nur mit schwarzen Strümpfen bekleidet, präsentiert sie sitzend ihren massigen Körper — und zieht dabei eine finstere Grimasse. Wie anmutig wirken dagegen die beiden von Suzanne Valadon gezeichneten "Frauen bei der Toilette" (1909). Valadon stand vielen Künstlern Modell und war Geliebte von Toulouse-Lautrec, bevor sie selbst zu Zeichenstift und Pinsel griff.

Pablo Picasso schwelgte, während er auf dem Montmartre wohnte, in seiner melancholischen bis sentimentalen "Blauen Periode". Seine Radierung "Gauklerfamilie" (1904) zeigt junge ärmliche Leute, die schon Nachwuchs haben. Die Mutter und das Kind in ihrem Arm blicken den Gatten und Vater fragend an. Der schaut ratlos und bekümmert drein. Das von Picasso vor blauem Hintergrund gemalte "Mädchen im Hemd" (1905) hat den Kopf zur Seite gedreht. Wen oder was beobachtet sie aus großen Augen? Die Oberlippe hat sie eigenartig hochgezogen. Fängt sie etwa gleich an zu heulen?

Zu Picassos künstlerischen Vorbildern gehörte in jener Zeit Théophile-Alexandre Steinlen. Dessen Radierung "Der arme Teufel" (1902) reißt schlaglichtartig das beklommene, eingefallene Gesicht eines Mannes aus der Dunkelheit. Wie eine selbstbewusste Heldin der Arbeit wirkt dagegen die von Steinlen gemalte "Wäscherin" (1895), die mit dem Wäschekorb am Arm energisch ihren Weg geht.

Selbstverständlich kommt in der Schau auch die schon damals zur Touristenattraktion gewordene lebenslustige Welt der Pariser Cafés, Cabarets und Tanzlokale zu ihrem Recht. Blickfang auf Jean-Louis Forains Gemälde "Der öffentliche Park" (um 1884) ist eine sich in affektierter Pose präsentierte Dame im signalroten Kleid. Den Kopf aufgestützt, wirft sie einen suchenden Blick. Wen will sie anlocken? Sucht sie eine neue Bekanntschaft?

Richtig laut wirkt schließlich Giovanni Boldinis Gemälde "Festszene im Moulin Rouge" (1889). Unter den paarweise dargestellten Gästen beiderlei Geschlechts geht es ganz im Stil der Zeit fröhlich, lüstern und ausgelassen zu. Die einen bandeln gerade an, die anderen haben sich bereits gefunden.

(RP)
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