Vokabular in Gender-Zeiten Liebe Leserinnen und Leser, liebe Leser*innen und Leser:innen, liebe Lesende!

Düsseldorf · Moderne Gender-Sprache sorgt für Irritation. Manche begrüßen sie aber sehnsüchtig. Anmerkungen zu einer Debatte, die am besten behutsam und ohne Ironie geführt wird.

  

 

Foto: schnettler

Wie Sie wissen, durchlebt jede Sprache zu allen Zeiten mehr oder wenige starke Wandlungen. Manche sind darüber entsetzt, andere begrüßen sie. In diesen Tagen entgeht keinem und keiner, dass männliche Endungen und überhaupt alles Maskulin-Substantivische auf dem Index zu stehen scheinen. Der Plan: Jeder Mensch gleich welchen Geschlechts soll sich in Texten angesprochen fühlen. Immerhin besteht Einigkeit, dass Sprache niemanden ausschließen, geringschätzen oder beleidigen darf.

Eine Debatte darüber sollte ohne Ironie, ohne Sarkasmus, ohne Übertreibung geführt werden. Womöglich erübrigt sie sich auch. Kaum jemand dürfte protestieren, wenn abwechselnd von Virologinnen, dann von Wissenschaftlern und dann von Forschenden gesprochen wird. Da kann sich niemand ausgeschlossen fühlen. Allerdings spürt man die Absicht. Und das Ausrufezeichen, nach dem Motto: Wir machen es absichtlich so.

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Auch das Sprechen mit angehängten -innen wirkt derzeit angestrengt. Es fließt nicht. Kommt vielleicht noch.

Früher konnten die großen Dichtenden oder im besten Fall sogar Zeitungs-Schreiberlinge sagen, dass sie die Sprache „beherrschten“. Schon in dieser Einschätzung stecke, so wird heute moniert, viel Übel, nichts dürfe künftig mehr beherrscht werden, kein Staatsmann dürfe herrische Töne anschlagen, und Selbstbeherrschung werde verpönt sein. Am besten seien komplett neutrale Wörter. Deshalb zirkulieren momentan Partizipien vom Typ Präsens Aktiv, denn die haben einen geschlechtsneutralen Plural. Die Lesenden merken dabei einem Sub­stantiv wie „die Lesenden“ an, wie viel Tuwort in ihm steckt. Wir sollen übrigens auch das „man“ vermeiden, weil da bereits drei Viertel vom Übel drinstecken. Das stimmt: „Man“ ist nie schön.

Wer ist gemeint, wenn von „den großen Dichtern deutscher Sprache“ gesprochen wird? Hierbei Annette von Droste-Hülshoff, Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs oder Sarah Kirsch auszuschließen, hat niemand jemals beabsichtigt. Oder doch? Ein kluger Kollege sagt, dass sich die Wirkung selten für die Absicht interessiere. Es sei lange bekannt, dass Mädchen sogenannte Männerberufe für erreichbarer halten, wenn sie geschlechtsneutral oder gender-inklusiv formuliert seien.

Nun könnte unsereiner und unsereine fraglos von Dichtenden oder von Dichter*innen sprechen, was in der Welt der Poesie, aber auch bei der bloßen Schreibweise ein Problem darstellt – weil plötzlich das Problem der Silbentrennung am Zeilen­ende anbrandet. Dichter*-innen sehen seltsam aus, Dich-ter*innen aber auch. Vielleicht, rät der Kollege, müssen wir uns auch nur daran gewöhnen; wir sollten es einmal vorurteilsfrei betrachten.

Um alle Gemeinten, egal welchen Geschlechts, auch sprachlich sichtbar zu adressieren und zu integrieren, ist eine gewisse Beharrlichkeit erforderlich, bei der Zartmeinende allerdings für die Zukunft schwarzsehen. „Schwarzsehen“? Dieses Verb habe ich deshalb wiederholt und in An- und Abführungsstriche gesetzt, weil es vermutlich bald verschwinden wird, ebenso wie die „Schwarzmalerei“, der „Schwarzhandel“, die „Schwarzarbeit“ oder das „Schwarzfahren“. Warum? Weil, so sagen manche, bei unbedachtem Gebrauch dieser Wörter der Gesetzesbruch (schwarz = illegal) angeblich mit einer Hautfarbe assoziiert werde.

Sensible Lesende dieses Textes könnten glauben, dass ich mich über sprachliche Bestrebungen lustig mache oder mich störrisch zeige. Das ist nicht der Fall, allerdings fremdle ich noch. Im Singular ist ja oft sowieso alles gut, nur der Plural ist das Problem. Und immer wieder die männliche Form. Ich erinnere mich, dass ich in den 43 Jahren, in denen ich für diese Zeitung schreibe, mit dem viel zitierten „geneigten Leser“ immer auch die Leserin gemeint habe. Falls sie sich aber nicht angesprochen gefühlt hat, tut mir das rückwirkend leid.

Die Wahrscheinlichkeit besteht jedoch, dass Texte entweder ein wenig länger werden („Liebe Leserinnen und Leser“) oder sprachlich durch die Häufung von Ersatzpartizipien („Liebe Lesende“) auffallen. Entfernt sich solches Sprachverständnis von der literarischen Geschichte unserer Sprache? Wird sie künftig in einem vitrinenhaften Paralleluniversum aufbewahrt?

Der geschätzte Kollege gibt zu Protokoll, er sei gegenüber dem Sprachwandel leidenschaftslos geworden. Er glaube nicht, dass die Leute sich aktiv etwas aufzwingen ließen; sehr wohl könne sich der Sprachgebrauch aber durch eine breite Debatte ändern, wie es sie zum Gendern gerade gibt. Er habe das Gefühl, dass die meisten Gegner von Gender-Sprache sich so darüber aufregen, weil sie meinen, die Befürworter klagten sie irgendwie persönlich an. Ist das so?

Begonnen hat das alles mit Lilo Wanders, die uns im Fernsehen stets freundlich mit „Liebe Liebende“ begrüßte. Damals haben wir das beschmunzelt. Doch war es visionärer Ernst und der Beginn des Versuchs, unsere Sprache zu exorzieren. Womöglich wird sie herrenlos. Aber hat sich Sprache nicht immer geändert?

Ich bin ratlos. Wissen Sie weiter? Eine kleine Hilfe gibt uns vielleicht das zwölfte Kapitel im Buch Genesis, in dem Gott zu dem Stammvater und Sprachschöpfer Abraham sagt: „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“

Herzlich und ausnahmslos grüßt Sie alle Wolfram Goertz

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