Mit der Schuld des Vaters leben

"Glückskind mit Vater" heißt Christoph Heins neuer Nachwende-Roman.

Christoph Heins Romanfiguren verbindet eine liebenswürdige Dickköpfigkeit. Von der Ärztin Claudia aus "Der fremde Freund" (1982) bis hin zum Kulturwissenschaftler Rüdiger Stolzenburg in "Weiskerns Nachlass" (2011) waren sie alle ein wenig eigenwillig, manchmal störrisch und introvertiert. Nun präsentiert uns der 71-jährige Christoph Hein, der mit "Willenbrock" (2000) und "Landnahme" (2004) zwei der präzisesten Nachwenderomane vorgelegt hat, einen Protagonisten, dem die Makellosigkeit auf der Stirn geschrieben steht: eine politisch-moralisch so integre Figur, die für jeden Orden oder jede Verdienstmedaille taugen würde.

Jener Konstantin Boggosch, der kurz nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone als Sohn eines von den Polen hingerichteten hohen NS-Funktionärs und Industriellen geboren wurde, hat Zeit seines Lebens gegen den Schatten seines Vaters zu kämpfen. Als Jugendlicher reißt er aus und will in Marseille in der Fremdenlegion anheuern. Nach der Absage landet er in einem Kreis gebildeter, ehemaliger Résistance-Mitglieder, die ihn fördern und ihm den Schulbesuch ermöglichen.

Ist es die Sehnsucht nach der Mutter oder das durch seines Vaters Untaten ausgelöste schlechte Gewissen gegenüber seinen Mentoren? Jedenfalls kehrt Konstantin zurück nach Deutschland - genau in jener Phase, als die SED Mauer und Grenzzäune errichten ließ. Keine vielversprechende Zeit für den Sohn eines NS-Verbrechers in der DDR.

Überall, wo er auftaucht, sind die Akten über die Verbrechen seines Vaters schon gegenwärtig. Der Besuch der Oberschule bleibt ihm ebenso verwehrt wie die staatliche Förderung als talentierter Leistungssportler oder das Studium an der Filmhochschule in Babelsberg. Er trägt die Schuld seines Vaters wie eine dauerhafte Tätowierung am eigenen Körper mit sich herum. Und seine Hoffnung, "dass dieses Unheil wie eine dunkle Wolke irgendwann sich auflösen und verschwinden würde", erweist sich als trügerisch.

Er wird dennoch später Rektor eines Gymnasiums in der Provinz, bleibt aber ein Mensch, der an seiner gebrochenen Biografie unendlich leidet. Ein "Nachgeborener", der zwischen die Mühlsteine der Geschichte geraten ist und der sich nur einmal (unbewusst) als Held entpuppte. "Du warst mein Glückskind, Junge, denn da ich mit dir hochschwanger war, wagte der russische Offizier nicht, mich abführen zu lassen", berichtete seine Mutter.

Christoph Hein erzählt zwar eine ereignisreiche deutsch-deutsche "Geschichte", aber die Romanhandlung droht unter der Faktenfülle zusammenzubrechen. Boggosch bleibt seltsam wächsern, wie eine Figur in Madame Tussauds Kabinett. Man bestaunt sie respektvoll, spürt aber, dass es sich um eine Nachbildung handelt. So ähnlich erlebt man auch Boggosch - als bewunderungswürdiges, deutsches Ausstellungsexponat.

(RP)
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