Mein Vater entschied den Mauerbau

Interview mit Nikita Chruschtschows Sohn Sergej

Interview mit Nikita Chruschtschows Sohn Sergej

Ihr Vater Nikita Chruschtschow war im Zweiten Weltkrieg als Polit-Offizier in Stalingrad. Wie war sein Verhältnis zu den Deutschen?

Chruschtschow jr. Wenn wir über die Deutschen sprechen, dann müssen Sie verstehen, dass wir alle nach dem Krieg die Deutschen gehasst haben. So einfach war das. Die Deutschen hatten unser Land zerstört. Das war auch der Grund für die Feindseligkeiten 1945, als die Sowjet-Armee deutschen Boden betrat. Dieser Hass auf die Deutschen blieb etwa bis in die Mitte der 60er Jahre, danach nahm er ab. Die Verhältnisse wurden persönlicher, freundlicher und später sogar normal. Mittlerweile habe ich auch viele deutsche Freunde und fühle keine Feindschaft mehr.

Lange war unklar, von wem die Initiative zum Mauerbau ausging, von Moskau oder von Ost-Berlin.

Chruschtschow jr. Meine Meinung ist mittlerweile eine andere als früher. Es ist richtig: Die endgültige Entscheidung fällte mein Vater. Denn er war der Führer der Sowjetunion, und die war Besatzungsmacht in Deutschland. Natürlich konnten die Deutschen ohne das Plazet aus Moskau nichts selbst unternehmen. Besonders deshalb, weil es ja auch wegen des Berliner Vier-Mächte-Status das Verhältnis zu den USA betraf. Aber wir wissen heute auch, dass Ulbricht ständigen Druck auf Moskau ausübte. Es sollte endlich etwas geschehen, um den Auswanderungs-Strom aus der DDR in die Bundesrepublik und von Ost-Berlin nach West-Berlin zu stoppen. Es war also zunächst eine Entscheidung der Sowjet-Führung, dann eine Entscheidung des Warschauer Pakts. Die treibende Kraft dahinter war aber die ganze Zeit Walter Ulbricht.

Wie stark war Ulbrichts Druck auf Moskau?

Chruschtschow jr. Ulbricht sagte immer wieder, wir müssten etwas tun, weil die Menschen das Land verlassen und das die DDR schwächt. Chruschtschow sagte ihm am Anfang, die sozialistischen Staaten sollten ihre Stärke zeigen. Wir könnten nicht gewinnen, wenn wir weniger produktiv und effizient seien als die Bundesrepublik Deutschland. Also sollte die DDR-Führung selbst das Leben im Osten Deutschlands besser machen, um den Flüchtlingsstrom nach Westen zu stoppen. Damit nicht mehr die DDR-Bürger in die Bundesrepublik emigrieren, sondern Bundesbürger in die DDR übersiedeln. Aber Ulbricht entgegnete, dafür brauche er Zeit. Und er könne die Lebensverhältnisse nicht verbessern, wenn Ingenieure, Ärzte, Studenten massenweise das Land verliessen. Am Ende gewann er dann Chruschtschows Unterstützung.

Haben Sie beim Mauerbau mit Ihrem Vater auch über die Gefahr eines militärischen Konflikts diskutiert?

Chruschtschow jr. Ja. In unseren Diskussionen sagte er mir mehrfach, dass er nicht glaube, dass die USA wegen der Berliner Mauer einen Krieg beginnen würden. Denn die Mauer stellte auch die Amerikaner zufrieden, weil es den Status Berlins sicherte. Und die Briten und Franzosen sowieso, denn die wollten keine deutsche Wiedervereinigung. Deshalb war diese Lösung der Berlin-Krise eigentlich im Interesse aller – mit Ausnahme der Bundesrepublik.

Wie reagierte die sowjetische Öffentlichkeit auf den Mauerbau?

Chruschtschow jr. Ich glaube, die Menschen schenkten ihm keine große Aufmerksamkeit. Die Mauer stand ja nicht mitten in Moskau, sondern mitten in Berlin. Ich kann mich jedenfalls an keine Diskussionen zu dem Thema erinnern.

Im August 1961 war US-Präsident Kennedy erst sieben Monate im Amt. War der Mauerbau ein erster Härtetest für den jungen US-Präsidenten?

Chruschtschow jr. Nein. Es gibt viele Gerüchte, mein Vater habe gedacht, Kennedy sei ein schwacher Präsident und er könne ihn manipulieren. Ich bin da anderer Meinung. Kein ernsthafter Politiker wird sich einbilden, dass er den amerikanischen Präsidenten manipulieren kann, egal ob dieser stark oder schwach, jung oder alt ist. Aber es kamen mehrere Faktoren zusammen: Kennedy weigerte sich, die DDR als unabhängigen Staat anzuerkennen. Und das war eines von Chruschtschows Zielen. Als mein Vater also sah, dass Kennedy da nicht mitmachen wollte, und als gleichzeitig der Druck von der DDR-Führung wuchs, fiel die Entscheidung zum Mauerbau.

Was fühlten Sie persönlich, als Sie 1989 hörten, dass die Mauer fiel?

Chruschtschow jr. Ich war kurz vorher, im Oktober 1989, beruflich in Leipzig. Damals war ich am Forschungsinstitut für Computeranwendungen beschäftigt. Und als ich in die DDR kam, zu einem Besuch der Robotron-Fabrik, da gab es gerade eine Erleichterung beim Geldumtausch. Alle standen Schlange, um Westgeld zu tauschen – wir konnten unser Geld gar nicht wechseln. Da wurde mir klar, dass diese Gesellschaft zerfällt. Ich würde nicht sagen, dass ich glücklich war, als die Mauer fiel. Aber ich dachte, es ist ein natürliches Glied in einer Kette von Ereignissen. Es war eines der Signale, dass die Sowjetunion bald mit sehr unangenehmen Entwicklungen konfrontiert werden würde.

(RP)
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