Neujahrs-Provokation im Lutherjahr Zehn neue Thesen für 2017

Wittenberg · Was hätte uns Martin Luther heute zu sagen? Und wie? Twittern würde der Reformator eher nicht. Aber den Papst würde er mögen. Eine Neujahrs-Provokation.

Schlosskirche in Wittenberg (Archivbild): Hier sind die berühmten Thesen des Reformators verewigt, die er 1517 an dem Tor angeschlagen haben soll

Foto: dpa, toh

Die Frage danach, was Luther heute sagen würde, ist nicht nur hochspekulativ. Es ist zweifelhaft, ob sie überhaupt seriös ist. Unter historisch kritischen Gesichtspunkten mit Sicherheit nicht. Aber im Sinne einer sanften Provokation und Inspiration kann sie zu einem lebendigen Anlass werden, über die Reformation in der Gegenwart nachzudenken. Dabei haben wir uns auch einen lernenden Luther vorzustellen versucht, der das Wissen der vergangenen Jahrhunderte aufgesogen und für sich und seinen Glauben jetzt nutzbar gemacht hat - zur Übersetzung seiner Gedanken in unser 21. Jahrhundert, in zehn neue Thesen für 2017.

Am Anfang war das Wort. Und nicht Twitter.

"Luther würde heute twittern", ließ Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz verlauten und schickte damit wie auf Bestellung geflügelte Worte ins Lutherjahr 2017. Man ahnt, was gemeint ist: die Aktualität seiner Worte und der Wille, viele Menschen zu erreichen - wie mit der Übersetzung der Bibel ins Deutsche und der großen Verbreitung dank Gutenbergs Buchdruck. Doch stimmt das? Wäre Luther bereit, die frohe Botschaft häppchenweise konsumierbar zu machen? Man darf einigen Widerstand des Reformators vermuten. Er dürfte vor allem auf die Gefahren beliebiger Kommunikationsformen aufmerksam gemacht haben. Denn neben der Verkündigung von Gottes Wort lag ihm eben auch das am Herzen: die Befähigung jedes einzelnen Menschen, verantwortlich und emanzipiert mit Botschaften umzugehen.

Schaut dem Volk aufs Maul, aber redet ihm nicht nach dem Mund!

AfD-Chefin Frauke Petry beruft sich auf Luther: "Hier stehe ich und kann nicht anders" sei sein wichtigstes Zitat. Der Vergleich, der da mitschwingt, ist zwar anmaßend, aber es stimmt ja: Der derbe, polternde, zornige Luther hätte mit der oft windelweichen, übervorsichtigen Polit-Sprache unserer Tage massive Probleme. Deswegen wird er von manchem AfD-Politiker gern in Anspruch genommen. An seinem Lebensende hetzte er gar gegen die Juden. Luther schrieb aber auch, es sei "ein feine, edle Tugend, wer alles, das er vom Nächsten hört reden (so es nicht öffentlich böse ist), wohl auslegen und aufs beste deuten oder je zu gut halten kann wider die giftigen Mäuler". Pauschal Volkes Stimme, ihre Ansprüche und Verdächtigungen zu preisen, war Luthers Sache nicht. Er schrieb zum Beispiel auch in scharfen Worten gegen die aufständischen Bauern.

Zu viel Staatsnähe ist zu viel der falschen Ehre!

Sozusagen die andere Seite der Medaille. Diese These setzt einen lernenden Luther voraus, der die Geschichte seit dem Thesenanschlag bis heute verfolgen konnte. Denn die Nähe zu den weltlich Mächtigen pflegte er durchaus - siehe Bauernkrieg. Prägend war für ihn der Schutz durch seinen Landesherrn, den sächsischen Kurfürst Friedrich den Weisen. In seiner Hoffnung, die Reformation auch durch die Hilfe der Fürsten zu retten, suchte Luther ihre Nähe. Eine Volksbewegung sieht anders aus. Historiker sehen hier die Wurzeln des deutschen Gehorsams gegenüber Obrigkeiten - mit fatalen Folgen: Nicht wenige Theologen glaubten, dass der Erste Weltkrieg im Geiste Luthers ein heiliger Krieg sei. Und im Nazi-Reich formierten sich Pfarrer unter dem Namen "Deutsche Christen" zu einer Art SA des Herrn. Der weltliche Schutz kann helfen, die weltliche Macht aber auch verführen.

Schützt unsere Sprache!

Mit seinem Großwerk - der Bibel-Übersetzung ins Deutsche - wollte Martin Luther möglichst vielen Menschen den Zugang zu den Quellen möglich machen. Luther und die Reformation waren nicht nur der Brückenschlag vom Mittelalter in die Neuzeit. Seine deutsche Bibel war auch der fulminante Auftritt einer deutschen Nationalsprache. Wenn sich Gottes Wort ins Deutsche übertragen ließ, dann musste die Sprache zu allem anderen auch fähig sein. Doch dem Volk auch sprachlich aufs Maul zu schauen heißt nicht, die Sprache radikal zu vereinfachen. Unsere Rechtschreibreform - sie dürfte ein Dorn im Auge des Reformators gewesen sein.

Bewahrt kühlen Kopf gegenüber Fremden!

Ein heikler Punkt: Wie hätte sich Luther gegenüber Flüchtlingen verhalten? Luther war selbst kein großer Reisender und Kenner fremder Länder; sein Wort wurde zwar in ganz Europa vernommen; sein geografischer Aktionsradius blieb indes überschaubar. Vielleicht rühren auch daher seine Vorbehalte gegenüber Fremden. Dazu zählt nicht allein sein zunehmend aggressiver und grässlicher Judenhass, sondern auch seine Angst vor den damals erobernden Osmanen. Luther war getrieben von der Angst vor Türken (die er mit dem Teufel im Bunde wähnte) sowie einem Islam, der das Christentum zu vernichten drohte. Natürlich hätte Martin Luther die Not der Flüchtlinge erkannt, doch wäre er nicht zum Wortführer einer Willkommenskultur geworden. Vorstellbar bleibt es darum, dass Martin Luther - von eigenen Vorbehalten getrieben - zumindest eine Obergrenze für Flüchtlinge in Betracht ziehen würde.

Gedenkt nicht meiner, sondern der Botschaft der Bibel!

Seit dem 19. Jahrhundert ist an Luther zu diversen Jahrestagen derart intensiv gedacht worden, dass er unkenntlich zu werden droht. Als beliebter Namensgeber von Straßen (130 hierzulande) und Kirchen (333) sowie als Vorlage stattlicher Denkmäler ist aus dem Reformator ein Held und Mythos der Deutschen geworden. Solche Prämierungen reichen dann meist aus, die Schriften vergessen zu manchen und die revolutionäre Sprengkraft seiner Thesen zu entschärfen. Die ehrende Umarmung ist früh schon zur Vereinnahmung geworden. Der Rebell dient als Projektionsfläche für eine deutsche Ikone in vielerlei Schattierungen. Und die Vielschichtigkeit seines Werks scheint allerlei zu belegen. Im Grunde ist das eine fatale Wirkungsgeschichte seines Werks. Ein ganzes Jubiläumsjahr dürfte nicht unbedingt nach Luthers Geschmack gewesen sein.

Lest mehr in der Bibel, aber kritisch!

Klingt banal - schließlich hat Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit dem Volk überhaupt erst zugänglich gemacht. Tatsächlich ist diese Kultur der Schriftkenntnis im Protestantismus viel verbreiteter als unter Katholiken. Ob das heute noch vielerorts über Konfirmationssprüche und Tageslosungen hinausgeht, darf man allerdings bezweifeln. Zudem übt das wörtliche Bibelverständnis immer noch eine unheilvolle Anziehungskraft aus. Luther wäre das ein Gräuel - er hat zwar die Schrift mit philologischer Akribie übertragen, aber ihm geht es nicht um die Buchstaben, sondern um ihren Bezug auf Christus: "Es gilt nicht ein Wort herauszwacken und drauf pochen, man muss die Meinung des ganzen Texts, wie er aneinanderhanget, ansehen."

Schafft endlich ein gemeinsames Abendmahl!

Luther wollte die Kirche nicht spalten; er wollte sie in einen als ideal empfundenen früheren Zustand zurückversetzen. Genau das bedeutet das Wort "Reformation", das um 1500 in aller Munde war. Zwar hat er auch die Papstkirche mit derben Fluchwörtern belegt, sie etwa "Hurenkirche" genannt. Der Zerfall der alten Weltordnung, der großen Einheit unter dem Dach der Kirche, war aber zu Luthers Zeit schon voll im Gange. Das Abendmahl sei "ein Zeichen von Gottes höchster Liebe und grundloser Barmherzigkeit", schrieb Luther 1530. Also doch wohl für alle. Zumal nicht die Kirche einlädt, sondern Christus selbst.

Schätzt den Papst - gerade diesen!

Die "Papisten" sind über die Jahrhunderte von den Evangelischen ebenso sehr gehasst worden wie umgekehrt. Und noch im Jahr 2000 schrieb Joseph Ratzinger den Protestanten ins Stammbuch, sie seien ja gar keine Kirche. Wie anders klingt das unter Franziskus! "Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen", sagte er 2015 auf die Frage nach einem gemeinsamen Abendmahl, und: "Sprecht mit dem Herrn und geht voran." Gewissen über Lehre - das kennt man, allerdings von Protestanten. Kein Wunder, dass reihenweise evangelische Kirchenfunktionäre begeistert aus Begegnungen mit Franziskus herauskommen. Und mancher kann sich sogar vorstellen, dem Papst eine Art Ehren-Vorrangstellung in der Christenheit zuzuerkennen.

Fürchtet euch nicht!

Kein Luther-Zitat, sondern ein Satz aus der Weihnachtsgeschichte und ein Kern christlichen Glaubens. Aber ein Satz, den Luther auch 2017 sagen könnte, da Europas moralischer Bankrott, Amerikas Selbstpreisgabe, die Wut der Abgehängten und die allgemeine Glaubensverdunstung beklagt werden. Luther war ein Einmischer, ein Infragesteller, ohne Angst (zumindest sichtbare Angst) vor Autoritäten, doch felsenfest optimistisch. "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan", schrieb er 1520. Das ist souverän. Und mehr Souveränität brauchen wir 2017 alle.

(los / fvo)