Serie Denkanstoss Andere Meinungen aushalten

Mönchengladbach · Für unseren Autor sind viele Impulse der Reformation bis heute wichtig geblieben. Er rät dazu, den Willen zur Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zu bewahren und alle Menschen gleichberechtigt zu behandeln.

Vor 496 Jahren, im Jahr 1521, wurde Martin Luther mit einer Parade von begeisterten Anhängern in Worms empfangen - zum großen Unmut der kaiserlichen Berichterstatter. Gegen ihren Augenschein kam Luther aber krank, ängstlich und mit Selbstzweifeln in Worms an. Er war zur Verhandlung seines "Falles" vor Kaiser und Reichstag geladen und meinte ebenso viele Teufel zu spüren, wie er Ziegel auf den Dächern sah. Viele Selbstverständlichkeiten waren ihm in den zurückliegenden Jahren zerbrochen. Er hatte Neuland betreten.

Obwohl klar war, dass es um den Widerruf seiner kirchenkritischen Lehre vom gnädigen Gott ging, erbat er sich einen Tag Bedenkzeit. Seine Worte am zweiten Tag: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" hat Frauke Petry von der AfD als die wichtigsten Worte Luthers bezeichnet. Das ist aber eine gefährliche Banalisierung. In seiner Antwort an den Kaiser gibt Luther zu bedenken, dass er verschiedene Bücher geschrieben habe, die man nicht alle gleich behandeln könne. Er betont, dass auch der Staat nur durch Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit seiner Bürger gelingenden Bestand haben kann. Er beruft sich auf sein Gewissen, das an sein Verständnis der Bibel gebunden ist, solange ihm nicht vernünftige Gründe einer besseren Auslegung vorgelegt werden. Und dann erst, "ohne Hörner und Zähne": Gegen das Gewissen zu handeln sei weder sicher noch heilsam. "Ich kann nicht anders, hie stehe ich. Gott helff mir. Amen."

"Luther war kein Berufspolitiker, aber ein eminent politischer Kopf" schrieb der Kirchenhistoriker Heiko A. Oberman zu dieser Episode. Darum dürfen wir uns vielleicht an diesem Tag von Luther an das erinnern lassen, was uns oft als zu selbstverständlich erscheint und darum aus dem Blick gerät: Bleibend wichtig sind die Bereitschaft zur Differenzierung der Fragestellungen gegen alle populistischen Pauschalisierungen, der Wille zu Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegen Desinformation und Fake News, der Wille zur Gleichberechtigung aller Menschen gegen Diskriminierung, vernünftige Gründe gegen Vorurteile, persönliche Überzeugung, die im offenen Wort zugleich andere Meinungen aushält, und das Gottvertrauen, das vor Selbstüberschätzung und Machtmissbrauch bewahren will.

Luther selbst hat das im Blick auf seine Person und seinen Fall nicht alles erfahren dürfen: Seine Verweigerung des Widerrufs brachte ihm prompt die Reichsacht ein, und nur die von seinem fürsorglichen Landesherrn organisierte Schutzhaft auf der Wartburg sicherte sein Leben. Er hat sich auch selbst nicht immer an die gesetzten Standards gehalten und war bisweilen politisch ungeschickt. Dennoch sind viele Impulse der Reformation bis heute wichtig geblieben. Am besten nimmt man sie auch zum Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten noch einmal wahr.

DER AUTOR IST PFARRER DER EVANGELISCHEN HAUPTKIRCHE IN RHEYDT.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort