Interview „Das Virus wird uns nicht mehr verlassen“

Bonn · Wir sind mitten in einer historischen Zeitenwende, so der Bonner Philosoph. Darum sei die Zeit für eine neue Aufklärung gekommen. Nach seinen Worten sind Philosophen die Rufer in der Wüste, die man jetzt hören müsse.

 Sicherheit geht vor: Mit weißen Kreisen sind am Düsseldorfer Rheinufer Sitzareale markiert.

Sicherheit geht vor: Mit weißen Kreisen sind am Düsseldorfer Rheinufer Sitzareale markiert.

Foto: AFP/INA FASSBENDER

Vor Corona war unsere Lebensform nach Ihren Worten letal – auch mit unserem Konsumverhalten. Haben wir mit dem Virus plötzlich Normalität leben gelernt – im Sinne eines solidarischen, respektvollen Verhaltens?

Gabriel Wir haben tatsächlich für einen Moment – und dieser Moment wird noch viel länger dauern, als uns das lieb sein mag – das moralisch Richtige getan. Und das beinahe um jeden Preis. Wir werfen nahezu täglich mit Milliarden um uns, um Vorerkrankte und eigentlich fast alle Gruppen vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Und das macht fast die gesamte Menschheit. Das ist welthistorisch die höchste Koordination der Gesamtmenschheit mit einem moralischen Ziel, die es jemals gab. Wir sind auch in diesem Sinne Zeugen eines welthistorischen Ereignisses. Andere Pandemien sind anders verlaufen. Wenn man an AIDS zurückdenkt – und die HIV-Pandemie läuft noch –, war die erste Reaktion Homophobie, Diskriminierung von Menschen. Das haben wir jetzt nicht.

Und wir haben unser höchstes Gut der vergangenen Jahre geopfert – die Wirtschaft …

Gabriel … und darüber hinaus ist es bis zum heutigen Zeitpunkt so, dass wir zum Schutz des Atemkönnens gefährdeter Menschen selbst Masken tragen. Symbolisch gesprochen: Jeder von uns gibt gewissermaßen einen Teil seines Atems, damit niemand den Atem ganz verliert. Das ist eine gute Übung in Moralität.

Haben wir in der Coronakrise einen moralischen Fortschritt gemacht?

Gabriel Auf jeden Fall. Weil wir moralisch richtig in die Krise hineingegangen sind, haben wir in Folge weitere Fortschritte gemacht: mit einem zunehmenden Bewusstsein für die Existenz von Alltagsrassismus in Deutschland – durch die Vorgänge in den USA; und auch für die schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Aktuell erleben wir das Phänomen von „Over-Tourism“, Stichwort Mallorca. Wir haben jetzt ein schlechtes Gewissen für die Ausbeutung unserer spanischen Freunde. Es ist für mich ein moralischer Fortschritt, dass wir offenbar nicht mehr so einfach bereit sind, aus unseren spanischen Freunden ein Volk aus Kellnern zu machen, die uns Partyräume und billige Hotels zur Verfügung stellen.

Sie sehen mit der Coronakrise die Chance einer neuen Aufklärung. Könnte es so ein Paukenschlag werden wie mit der Französischen Revolution, dem „Urknall“ aufklärerischen Denkens und Handelns?

Gabriel Das glaube ich fest. Jetzt ist genau der Zeitpunkt, eine neue Aufklärung zu beginnen. Und als Philosoph möchte ich daran mitwirken. Wir erleben einen Moment der Zeitenwende und müssen alles neu designen. Das Virus wird uns nicht mehr verlassen, auch nicht mit einem Impfstoff irgendwann, weil sich derartige Atemwegserkrankungen nicht einfach wegimpfen lassen. Das heißt, wir bleiben in der Phase des vorsichtigen Umbaus der Gesellschaft. Und immer dann, wenn wir versuchen, zurückkehren zu dem, was wir damals für normal hielten, wird es nicht gehen, weil wieder zu viele Menschen sterben. Wir sind in einer hygienisch ausgelösten Revolution angekommen.

Geht Moral vor Demokratie?

Gabriel Uns muss gelingen, eine moralische Weltordnung in der Form des demokratischen Rechtsstaates umzusetzen. Warum haben wir in Deutschland eine so stabile Demokratie? Weil das Grundgesetz auf einem moralischen Fundament steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Wenn Demokratie nur eine bürokratische Regierungsform wäre, dann hätte eine Diktatur, die das moralisch Richtige tut, ein leichtes Spiel. Der erhabene Wert der Demokratie ist, dass sie gut kombinierbar ist mit moralischer Einsicht.

Sie plädieren für einen moralischen Kompass, der die Gesellschaft leitet. Wer aber gibt die Richtung vor?

Gabriel Wer in die Geschichte schaut, sieht, dass es auch Philosophen waren. Die Philosophie ist allen zugänglich, wir sind keine Schamanen, sondern Repräsentanten der Vernunft. Wir hätten keine Gewaltenteilung ohne Montesquieu. Und Platon und Aristoteles haben die Frage gestellt, wie eine moralisch respektable Staatsform aussehen könnte. Wir sind die Rufer in der Wüste, die man jetzt hören muss.

Die Aufklärung hat auch ihre Schattenseiten. Als philosophische Gedanken in die Tat umgesetzt wurden, wurde die Französische Revolution zum Terror-Regime!

Gabriel Unser Vorteil ist, dass wir genau diesen Fall in der ersten Aufklärung der Moderne schon durchlaufen haben. Ohne diese Aufklärung hätten wir nicht die Pathologien der Moderne und auch keinen entfesselten naturwissenschaftlich technologischen Fortschritt, der uns fast zur Selbstzerstörung der Menschheit geführt hat – nämlich mit der Klimakatastrophe. Wir wissen jetzt: Das kann also passieren. Bei der neuen Aufklärung müssen wir dringend mit einem besseren Betriebssystem arbeiten. Die heutige Aufklärung richtet sich nicht – wie damals – gegen jemanden (damals die Kirche und die Aristokratie), sondern an alle. Das ist ein deutlicher Unterschied, eben echter Universalismus.

Können bei dieser Aufklärung auch die Kirchen dienlich sein, gewissermapen als ein moralischer Transmissionsriemen?

Gabriel Natürlich brauchen wir die, einfach deswegen, weil sie in der Vergangenheit die Rolle des moralischen Kompass‘ gespielt haben. In der katholischen Kirche haben wir den günstigen Fall, dass sie einen Papst hat, der genau das tut. Papst Franziskus ist in vielen Hinsichten der inkarnierte moralische Fortschritt. Auch die gesamte Symbolpolitik in der Pandemie, wie er alleine auf dem Petersplatz stand, war moralisch beeindruckend. Aber auch die evangelische Theologie und Kirche ist in einem intellektuell bemerkenswert guten Zustand. Die moralischen Fragen unserer Zeit sind alle global. Ich kann als Philosoph nur Gedanken entwickeln, die für einen Menschen in der chinesischen Provinz genauso gelten müssen wie für einen Inder, einen Japaner oder jemanden in München-Schwabing. Die Ideen unserer neuen Aufklärung müssen für alle Menschen gleichermaßen gelten – sonst sind sie falsch. Das ist die größte Herausforderung, weil es bisher noch keine Ethik gab, die in dieser Weise egalitär war.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort