Buchtipp der Woche Eine Frau stellt sich ihren Dämonen
Die Schriftstellerin Marion Poschmann lässt in ihrem neuen Roman den „Chor der Erinnyen“ erklingen. Ein originelles, humorvolles, poetisches Werk.
Weil sie ihrer kreativen Unruhe misstraut und ihren Hang zum Übersinnlichen fürchtet, hat sich Mathilda in einen Käfig scheinbarer Normalität eingebunkert, ist Studienrätin für Mathematik und Musik geworden, gilt als nüchtern und distanziert. Doch dann bröckelt die Fassade. Bei einem Streit bekommt ihr Ehemann einen Wutanfall, bleibt tagelang verschwunden. Eine Freundin aus Kindertagen taucht unangemeldet auf und erinnert sie an alte Schuldgefühle. Ein Wander-Wochenende endet im Chaos, als der Wald in Flammen steht. Und ihre Mutter, sonst ein Denkmal eines ereignislosen Daseins, zeigt ihr Zweites Gesicht, eröffnet ihrer Tochter, dass sie die Fähigkeit hat, mit Verstorbenen zu sprechen und Ereignisse vorauszusehen.
„Bei mir ist es milder“, notiert Mathilda mit zittriger Hand in ihr Tagebuch, „mir erscheinen lebende Personen. Sie flackern kurz auf, und ich weiß alles über sie. Oft geschieht es im Schlaf, wenn ein Traum seinem Ende zugeht und etwas enthüllt, was wahrer ist als der Rest und dessen Klarheit mich erschüttert zurücklässt.“ Träume und Visionen werden Wirklichkeit, Mathilda hört Stimmen, die ihr fremd sind und doch ganz vertraut erscheinen. Hört sie den „Chor der Erinnyen“?
In ihrem neuen Roman lässt Marion Poschmann den „Chor der Erinnyen“ auferstehen und begleitet eine vom Leben enttäuschte Frau auf ihrer Reise in die von Konvention und Normen befreite Zone der wahren Empfindungen, umkreist originell, humorvoll und poetisch die alten Fragen: Wie real ist die Wirklichkeit? Gibt es etwas außerhalb unserer Wahrnehmung? Ist das Leben vielleicht nur ein Traum? Mit ironisch verfremdetem magischen Realismus wirft eine allwissende Erzählerin Schlaglichter auf das aus den Fugen geratene Leben von Mathilda, erzählt vom absurden Leben einer völlig verkorksten Frau, die endlich den Mut hat, sich ihren inneren Dämonen zu stellen.
Ab und an tröpfelt die Erzählerin – kursiv gedruckt – Notizen und Gedichte aus Mathildas Tagebuch in den Textfluss: Sie fällt in einen tiefen Schlaf und träumt von sich als einer anderen: „Wir sehen sie nicht in dieser Welt Fuß fassen. Sie sitzt auf dem Sofa, berührt nicht den Boden, der Boden verschwimmt ihr, als könnten nur Wasservögel sicher dort landen. Sie bekommt keinen Fuß auf den Boden, die Welt ist ihr Abgrund, nicht Halt, aber was lässt sich tun, außer trotzdem gut auszusehen und niemals zu zeigen, dass sie zu viel weiß.“
Fantasievoll erzählt Marion Poschmann, wie es sich lebt, wenn man zu viel weiß über die Schönheit des Schreckens, Kontakt hat zur Urkraft dämonisierter Frauen, verbunden ist mit den schrillen Stimmen aus einer Zeit, als noch der „Chor der Erinnyen“ den Klang der Furien erzeugte und das Mutterrecht gegen die Herrschaft des Patriarchats verteidigte. Wie von magischer Hand gezogen, folgen wir gern „Mathilda auf freiem Feld, in einem vagen äußeren Wind, der nach und nach anschwoll, äußerster Traum. Sie bewegte sich in einer dunklen Wolke. Schritt in der dunklen Wolke dahin. Sturmtief Mathilda.“
Info Marion Poschmann: „Chor der Erinnyen“. Roman. Suhrkamp, Berlin 2023, 192 Seiten, 23 Euro