Berlin Lulus tödliche Unschuld

Berlin · Gipfeltreffen des Musiktheaters: Daniel Barenboim dirigiert, Andrea Breth inszeniert Alban Bergs Oper "Lulu" an der Berliner Staatsoper. Der sensationelle Abend bietet überdies David Robert Colemans überzeugende Neufassung des unvollständigen dritten Akts.

Als Alban Berg seine Oper "Lulu" komponierte, ahnte er, dass er ein Rätsel nicht entzaubern durfte. Die Figur war schon von Frank Wedekinds Textvorlage so perspektivisch und diskret angelegt, sie changierte zwischen Heiliger und Hure, sie schien in einem vorbewussten Zustand zu sein und doch alles zu wissen. Ihr Herz war kalt und entflammte nie. Wenn sie liebte, weilte ihre Seele bereits weit in der Ferne. So gab der Komponist seiner Oper eine eigenwillige Gestalt: Um diese Sphinx herum gruppierte er ein Ensemble von Begehrenden, und weil diese Männer so austauschbar waren, durfte in der Partitur mancher Sänger mehrere Identitäten annehmen. Beispielsweise ist der von Lulu nachhaltig gedemütigte Chefredakteur Dr. Schön am Ende jener Jack the Ripper, der nur am Geld, nicht am Fleisch interessiert ist und Lulu ins Jenseits befördert.

Die "Lulu"-Welt ist ein wirres Panoptikum, doch so traumhaft wie jetzt in der Berliner Staatsopern-Premiere (in der Außenstelle des Schillertheaters) hat man sie selten gesehen. Erich Wonder, der große Bühnenmagier, hat eine verwunschene Einöde erfunden, einen Friedhof der Objekte, der links Autowracks türmt, als habe Caspar David Friedrich sie dorthin gewuchtet, und rechts daneben Stahlträger aufstellt, denen das zugehörige Haus abhanden gekommen ist. Die Bühne hat letztlich keinen Mittelpunkt, sondern nur hohle Gassen, und durch sie gehen, schleichen, tänzeln und vor allem: schweben die Figuren.

Andrea Breths Inszenierung begibt sich als konsequente Choreografie der Erinnerung. Wer nicht singt, bleibt trotzdem auf der Bühne, denn die Welt der Lulu ist hochgradig durchlässig, osmotisch, variabel. Und wer von ihr scheidet, bleibt ihr doch untrennbar verbunden. So ist es konsequent, dass Breth ihrer Lulu angesichts dieses Übermaßes an Begehrlichkeit zwei Doubles spendiert. Sie schmiegen sich an die Männer, liegen lasziv auf dem Boden, kriechen auf den Autos herum. Eine Mission haben sie nicht, sie sind einfach da.

Trotzdem führt derlei massive Repräsentanz nie zu verwirrender Überbeschäftigung, denn Mojca Erdmanns Lulu bleibt ein fulminanter Blick- und Ohrenfang. Mit einer etwas schmal gegürteten, doch sehr elastischen und extrem höhensicheren Stimme durchmisst sie die Partie wie einen Parcours. In ihrem Silberlamé-Kleidchen (Kostüme: Moidele Bickel) sieht sie aus wie eine Mischung aus Undine, Salome und Heidi Klum, sie guckt so kalt und freundlich, dass jedermann an diesem Blick hängen bleibt. Ist hinter diesen Augen doch ein Leben, ein Lieben? Mühe geben sich alle, dieses geheimnis- und verhängnisvolle Wesen zu erreichen: der bullige Dr. Schön (ein baritonales Kraftpaket als Opfer: Michael Volle), der linkische Alwa (tenoral durchschlagend: Thomas Piffka), der vierschrötige Schigolch (bullig und billig: Jürgen Linn), der als Boxer durch die Gassen tänzelnde Athlet (aufdringlich männlich: Georg Nigl), der backfischige Gymnasiast (köstlich naiv: Anna Lapkovskaja), der verliebt-einfältige Prinz (elegisch: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke). Doch Lulu erreichen? Unmöglich.

Vielleicht ergründet die Musik, was dem Blick verwehrt ist? Nun, der große Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle Berlin dirigiert zum einen, als habe Alban Berg die Wiener Filiale des französischen Impressionismus gegründet. Er hüllt kalte Melodien fast in Seide, dämpft grelle Akzente zu farblichen Sensationen, es ist manchmal mehr Schleier als Schaufenster, trotzdem klingt es aufregend. Die Musik hat, wo sie vernichten, wüten, tosen könnte, etwas Gelassenes, nie wird sie zur Hysterie verdonnert. Barenboim fühlt sich ein in den wundersam distinguierten Tonfall einer Gesellschaftstragödie und inszeniert eine Kunst der Andeutungen. Zuweilen scheint es, als plaudere die Musik die Figuren beinahe zu Tode. Sie verliert aber nicht den Charakter des Lauernden.

Anderswo lässt Barenboim den schneidenden Gestus des Schreckens aus der sensationell virtuosen Staatskapelle so ungehemmt hereinfahren, als entsetze sich die Musik vor dem Stoff, den sie vertont. Das ist in der Tat, als öffne sich die Büchse der Pandora. Selten hat Barenboim ein Werk so vielseitig von innen begriffen wie hier, es ist eine expressive Offenbarung – mit expansivem Raum für die Nuancen, für das Parlando, für das Stammeln, Keuchen und Raunen.

Die Kunst des Beiseite-Sprechens beherrscht die Regisseurin Andrea Breth ebenso brillant, trotzdem liebt sie es, dem Dirigenten und der Partitur auf offener Bühne zu widersprechen, und so weitet sich der Abend zum multiplen, dialektisch angehauchten Erlebnis. Wenn die Musik tätschelt, packt die harte Hand der Breth zu. Sie lässt keinem Psychotiker auf der Bühne etwas durchgehen, auch Lulu nicht. Die ist eine elegante Hündin, der sie die Seele zerschossen haben, bevor sie zur Dressur ins Tierheim kam. Jetzt, bei den vielen neuen Besitzern, brechen die alten Reflexe auf. Wenn Lulu kokettiert und tänzelt, fletscht ihre Seele bereits die Zähne, stets mit süßestem, aber auch abwesendem Unschuldsblick.

Doch ist der Abend kein milchiger, unscharf dramatischer Alptraum. Vielmehr verflüchtigt sich die Sogkraft des Hingangs gelegentlich ins Komische. Wo alles verfällt – Männer und Räume, Begierden und Träume –, darf Ironie durchschimmern. Lulu kennt die Eifersuchtsdebatten der Männer um sie herum zur Genüge; einen dieser Dialoge zwischen eifersüchtigem Ehemann und offensivem Bewunderer kann sie in beiden Rollen stumm mitsprechen, böse lächelnd wie eine Sphinx. Das sieht aus, als habe sich Breth mit Claude Chabrol über das Stück und seine Abgründe verständigt. Das ist hinreißend.

Und weil man an manchen Opernabenden das Glück im Maßkrug spendiert bekommt, ist zudem zu vermelden, dass David Robert Coleman auf Barenboims Wunsch hin eine sehr kluge Neufassung des (von Berg unvollständig hinterlassenen) 3. Aktes arrangiert hat. Die ohnedies etwas fremdkörperhafte Paris-Szene hat er eliminiert und sogleich den Anschluss zur finalen London-Szene gestrickt; nach Bergs Skizzen hat Coleman sie stilistisch überaus einfühlsam, mit einer Art offensiver Ehrfurcht, neu komponiert.

Es war ein Abend, dessen Schönheit sich auch darin zeigte, dass er das Unergründliche wahrte, ja vertiefte. Einige Buhrufer hätten lieber Erklärtheater für den Hausgebrauch gehabt. Das hätte das Rätsel der Lulu tatsächlich entzaubert.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort