Der Literaturnobelpreis ist ein Sinnbild unserer Zeit Die Zeit der literarischen Grenzgänger ist da

Stockholm · Der „Nationaldichter“ hat ausgedient. Denn viele große Autoren haben eine Migrations- und Fluchtgeschichte - und schöpfen daraus ihre Erzählkraft. Ein Beispiel ist der neue Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah.

 Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah.

Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah.

Foto: dpa/Kirsty Wigglesworth

Als kurz nach 13 Uhr in Stockholm wie gehabt sehr feierlich und also stocksteif der neue Nobelpreisträger in der „Sparte“ Literatur verkündet worden war, da gab es zunächst wenig Anerkennung oder auch Achtung für die Entscheidung. Abdulrazak wer? Und die Untertöne waren die erwartbaren kritischen, wenn ein weitgehend unbekannter Autor mal eben alle liebgewonnenen Spekulationen und Wünsche zerplatzen lässt. Die Vorbehalte dürften erst einmal anhalten, weil die vier Romane von Abdulrazak Gurnah, die bisher ins Deutsche übersetzt wurden, nicht lieferbar sind und die wenigen antiquarischen Exemplare nach der gestrigen Nachricht naturgemäß flugs vergriffen waren. Wann „Das verlorene Paradies“, „Donnernde Stille“, „Ferne Gestade“ und „Die Abtrünnigen“ wieder zu kaufen sind, ist ungewiss.

Für die Ökonomen des Literaturbetriebs ist das erst einmal desaströs. Knapp zwei Wochen vor Beginn der weltgrößten Buchmesse in Frankfurt wirkt der Nobelpreis also nicht sonderlich marktstimulierend. Hinzu kommt, dass in der deutschen Buchbranche nach zwei ordentlichen Monaten der September wieder Rückgänge sowohl beim Absatz als auch beim Umsatz bescherte. Die Zahl verkaufter Exemplare sank im Vergleich zum Vorjahresmonat um minus 0,4 Prozent; und erstmals nach längerem waren auch die bezahlten Preisen rückläufig: Der lag 13,79 Euro pro Buch und damit 0,5 Prozent tiefer als noch im Vergleichsmonat.

Nun ist der Literaturnobelpreis kein Förderinstrument für den Markt und auch keine Sozialabgabe für notleidende Autoren. Er bleibt einzig der Literatur verpflichtet, dementsprechend diskussionswürdig sind jedes Mal die Entscheidungen der Jury.

Wie auch in diesem Jahr. In der nunmehr 120-jährigen Geschichte der berühmten schwedischen Auszeichnung aber gibt es – wenn man so will - eine Weltpremiere: Erstmals bekommt ein tansanischer Autor den begehrten Lorbeer, obgleich der auf Sansibar geborene Gurnah 1968 nach Großbritannien flüchtete und seither dort lebt. Ein neuer Staat taucht jetzt also in der Rangliste der Nobelpreis-Nationen auf, die immer irgendwie skurril erscheint und die Literaturehrung zu fortwährenden Olympischen Spiele des Geistes degradiert. Von Interesse ist das Ranking dennoch, das von Frankreich mit 15 Preisträgern angeführt wird - vor den USA (13), Großbritannien (12), Deutschland und Schweden (jeweils 8), Italien (6) und Spanien (5).

Neben der Frage, wie sinnvoll überhaupt eine solche Liste ist, wird es häufiger als früher erklärungsbedürftig werden, welchem Land welcher Autor nun zugehörig ist. Denn in die Lebensläufe vieler bedeutender Schriftsteller ist eine Migrationsgeschichte eingeschrieben, manchmal auch eine Fluchtgeschichte. An die Stelle des Nationaldichters tritt immer öfter der Grenzgänger.

Der 73-jährige Abdulrazak Gurnah ist in diesem Jahr dann keine Weltpremiere mehr, sondern ein Prototyp. Seine Geschichte sind Erkundungen unserer Identität, sind Protokolle jener Menschen, die ihrer Heimat entrissen wurden, ein neues Leben aufwendig zu gründen suchten und doch entwurzelt blieben, hier wie dort. Gurnah hat es am eigenen Leib erfahren müssen. Er hat davon in seinen Geschichten erzählt und darüber an der University of Kent gelehrt, als Professor für postkoloniale Literatur. Flucht und Migration sind nicht das Schicksal einzelner, sondern sind zu Grunderfahrungen menschlicher Existenz im 20. und 21. Jahrhundert geworden.

Und die Literatur ist ihr Spiegel. In ihren Geschichten, die vom Erlebten ihrer Autoren zehren, fließen die Ströme verschiedener Kulturen zusammen. Und fast nie kommt es dabei zu einer Versöhnung der Einflüsse; oft ist es ein Widerstreit, der nicht selten in eine Rückbesinnung an die Herkunft endet. Doch gerade an ihren Konflikten entzündet sich – ungeachtet der so unterschiedlichen Biographien - eine immense Erzählkraft. Zu den Autoren dieser sogenannten interkulturellen Literatur zählen unter etlichen anderen der vor drei Jahren gestorbene Nobelpreisträger V.S. Naipaul sowie Salman Rushdie, Ismail Kadare und Albert Camus, auch die neue Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga und hierzulande der aus Bosnien stammende Deutsche Buchpreisträger Saša Stanišić, dessen prämierter Roman den Titel „Herkunft“ trägt.

Es ist bezeichnend, dass mit der Herausbildung der Staaten vor allem in Europa im 18. Jahrhundert auch eine Vorstellung von „Nationalliteratur“ geboren wurde. Mit ihr sollten das Land, seine Menschen und seine Sprache einen Ausdruck finden. Als eine Art Aushängeschild. Wir haben eine solche, von Beginn an unliterarische Idee bis ins 21. Jahrhundert geschleppt. Zeit also, sich endgültig von ihr zu verabschieden. Gar nicht offiziell. Aber in Büchern. Auch das Werk von Abdulrazak Gurnah wird dabei hilfreich sein.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort