Köln Lit.Cologne: "Hamlet" aus der Sicht eines Ungeborenen

Köln · Ian McEwan reiste zur lit.Cologne mit einer der spektakulärsten Erzählungen des vergangenen Literaturherbstes an. Witzig und erzählfreudig präsentierte der britische Bestseller-Autor sein Buch "Nussschale" vor mehr als 1000 Literaturfreunden. Die Erzählung nimmt das Motiv des Brudermordes aus Shakespeares "Hamlet" auf. Der Schauplatz des Geschehens ist nicht der dänische Königshof, sondern das heutige London. Aber das eigentlich Ungewöhnliche ist der Held. Der Schriftsteller lässt das Drama um Lust und Leidenschaft, Verrat und Mord aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes erzählen.

Bestens gelaunt schilderte der 68-Jährige den Moment, als er seinem Verlag die freudige Nachricht von der Buch-Schwangerschaft mitgeteilt hat. "Mein Verleger ist blass geworden. Hat aber trotzdem behauptet, er freue sich auf das Buch. Ich habe ihm natürlich nicht geglaubt. Ich war auch skeptisch, ob das funktioniert." Aber die Idee habe raus gewollt. Er sei für seinen Mut belohnt worden. "Der Fötus ist mein bisher angenehmster Erzähler. Absolut verlässlich, ohne unangenehme Eigenschaften und Überraschungen. Auf den Fötus konnte ich immer bauen, der hat mich nicht enttäuscht oder gar belogen."

"Sie kam aus Mariupol" ist ein Buch, das sich ebenfalls seiner Autorin Natascha Wodin aufgedrängt hat. Die Schriftstellerin wirkte bei der lit.Cologne etwas angeschlagen. Sie traf erst unmittelbar vor der Lesung im ehemaligen Pfandhaus der Stadt Köln ein.

Mit leiser Stimme las die 71-Jährige aus ihrem Werk. Es ist die mühsame Freilegung der untergegangenen Lebenswelt ihrer Mutter. Wodin reiste nur mit spärlichem Gepäck in die Vergangenheit. Sie hatte ein paar Kindheitserinnerungen, eine Ikone, drei Familienfotos und eine Heiratsurkunde. Die Mutter war 1943 mit ihrem Mann aus der Hafenstadt Mariupol in der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Als Zwangsarbeiter mussten sie in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns schuften. Nach dem Ende des Kriegs wurden sie in einem Lager in Fürth untergebracht. Dort kam 1945 Tochter Natascha zur Welt. Als sie zehn Jahre alt war, brachte sich ihre Mutter um. Mit 36 Jahren. "Sie geriet in den Reißwolf zweier Diktaturen: unter Stalin in Russland und unter Hitler in Deutschland."

Atemlos verfolgten die Hörer die Lesung. Wodin las nahezu emotionslos. Das außerordentliche Werk, das zugleich das Schicksal der Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland erzählt, spricht für sich selbst.

(RP)
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