Interview zum neuen Buch Ulla Hahns "Aufbruch"

Düsseldorf (RP). Die Dichterin Ulla Hahn (63) hat die Fortsetzung ihres gefeierten autobiografischen Romans "Das verborgene Wort" geschrieben. Im September erscheint "Aufbruch", der wiederum in Monheim spielt und ab Freitag in unserer Zeitung als Fortsetzungsroman erscheint.

 Die Schriftstellerin Ulla Hahn hat mit "Aufbruch" ihren autobiografischen Romanzyklus fortgesetzt.

Die Schriftstellerin Ulla Hahn hat mit "Aufbruch" ihren autobiografischen Romanzyklus fortgesetzt.

Foto: ddp

Nicht viele Romane waren so erfolgreich wie dieser: Ulla Hahns autobiografisch gefärbter Entwicklungsroman "Das verborgene Wort", der 400 000 Mal verkauft wurde und 2002 mit dem ersten Deutschen Bücherpreis geehrt wurde. Im September wird die Fortsetzung erscheinen; "Aufbruch" heißt der zweite Teil dieses Romanzyklus, der das Leben der Hildegard Palm im rheinischen Monheim weitererzählt. Das 600-Seiten-Epos wird eins der aufregendsten deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Herbstes sein. Ab morgen wird unsere Zeitung exklusiv mit dem Vorabdruck einer leicht gekürzten Fassung von "Aufbruch" beginnen.

Warum haben Sie so spät mit der Literarisierung Ihrer eigenen Jugend begonnen?

Hahn Schon in meinen Gedichten kann man Themen und Motive finden, die sich mit meinem Aufwachsen beschäftigen. Dann starb eine Freundin von mir mit Mitte 40, ein Schock, der bei mir wirkte wie ein Auftrag, ein Stück Leben, weitgehend meine Geschichte, festzuhalten, aufzuschreiben. Es war wohl der richtige Zeitpunkt, damit nicht eins dieser "Abrechnungsbücher" entstand, wie wir sie aus den siebziger Jahren kennen, wo die Eltern, besonders die Väter, nur schlecht gemacht werden. Ich will nicht urteilen, verurteilen schon gar nicht, sondern verstehen. Das gilt für ,Aufbruch' noch mehr als für das ,Verborgene Wort'. Aber dazu braucht man Abstand — zeitlich und auch psychisch.

Was ist der Unterschied zwischen dem realen Monheim und dem erfundenen Dondorf im Roman?

Hahn Das Monheim von heute habe ich bis auf die Landschaft fast komplett ausgeblendet. Das musste sein. Ich verlasse mich ganz und gar auf meine Bilder von früher, die ich in meinem Kopf habe.

Ist die Fiktion nicht auch ein Schutzmantel für die eigene Erinnerung?

Hahn Sicher, die Romanform macht freier in dem, was man von seinen Erinnerungen mitteilen möchte. Hilla Palm ist nicht eins zu eins Ulla Hahn, und die übrigen Figuren sind oft aus wirklichen Personen zusammengesetzt oder erfunden. Das ist ja die Herausforderung beim Schreiben: Ich mache aus Erfahrungen Erfindungen. Was zählt, ist die künstlerische Wahrhaftigkeit.

Aber die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann auch schmerzhaft sein?

Hahn Schmerzhaft, ja. Hilla Palm ist ja keine Märchenprinzessin und auch kein Engel; sie hat und macht Fehler. Und was ihr zustößt, womit sie im ,Aufbruch' fertigwerden muss, ist schlimm. Dies niederzuschreiben, dazu war die Romanform sicher hilfreich.

Sie denken an die Szene auf der Lichtung, in der Hilla vergewaltigt wird.

Hahn Die Szene auf der Lichtung habe ich immer wieder umgeschrieben, bis sie für mich nur noch ein Stück Literatur war. Da habe ich genau erfahren, was es heißt, sich etwas von der Seele zu schreiben. Man kann es wohl so sagen: Je schmerzhafter der Prozess der Auseinandersetzung ist, desto größer ist die Befreiung am Ende dieses Prozesses.

Hilla Palm beginnt nach dieser Tat für sich ja auch mit dem Schreiben . . .

Hahn . . . aber sie schreibt sich doch ein geschöntes Tagebuch unter einem anderen Namen. Das ist reine Flucht! Sie flieht in das Schreiben, was durchaus auch heilsam sein kann. Wenn jemand etwas so Furchtbares erlebt hat, muss er sehen, wie er über die Runden kommt. Notfalls kann man in Phantasiewelten abtauchen. Wenn man sich aber etwas wirklich ,von der Seele' schreiben will, dann muss man es schon beim Namen nennen.

Welche Schreiberfahrungen haben Sie bei Ihrem zweiten Roman gemacht, der die gleiche Tonlage des ersten Buches trifft und komischerweise bis auf fünf Seiten ebenso umfangreich ist?

Hahn In "Aufbruch" habe ich ein tiefes Verständnis für meine Eltern entwickelt können. Für ihre Art zu leben und uns Kindern zu begegnen. Sie hatten nie eine Chance, dieser Enge zu entkommen. Sie hatten nie die Freiheit einer Wahl. Das ist das eine. Dazu kommt: Hilla nimmt Abschied. Leicht fällt ihr das nicht, obwohl sie sich ein Studium immer gewünscht hat. Es macht auch Angst, aus dem Gewohnten auszubrechen. Und das Leben der tüchtigen so genannten kleinen Leute im Rahmen einer festgefügten Dorfgemeinschaft macht sicher und ist ja auch durchaus lebenswert.

Und die Tonlage?

Hahn Ich nähere mich meinem Stoff auf Augenhöhe. Wenn einfache Leute in der Literatur überhaupt vorkommen, so werden sie selbst beim bestem Willen des Autors von oben herab betrachtet. Kein Wunder: Die meisten Autoren kommen aus bürgerlichen Elterhäusern. Ich bin in meinem Herzen ,dat Kenk vun nem Prolete', wie es im Roman heißt, geblieben. Ich weiß, was es heißt, jeden Pfennig umdrehen zu müssen, nicht dabei zu sein. Ich kenne das harte Leben einfacher Leute. Ohne sie zu verklären, wollte ich sie in ihrem Stolz und ihrer Würde zeigen.

Wie würden Sie aus der Sicht Ihrer Heldin Hilla Palm folgenden Satz vervollständigen: ,Von einer die auszog, das ... zu lernen.'

Hahn Für den Roman ,Aufbruch' müsste der Satz lauten: ,Von einer, die auszog, das Fürchten zu verlernen.'

(RP)
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