Philosophenserie (7) Nietzsche — der zornige Prophet
(RP). Friedrich Nietzsche (1844–1900) schockierte die Welt mit der Macht seiner Worte. Er beschwor den Tod Gottes, den Übermenschen und die ewige Wiederkunft des Gleichen. Mit seinen Zukunftsthesen war er seiner Zeit weit voraus, spielte mit dem Gerede vom "Herrenmenschen" aber auch den Nationalsozialisten in die Hände.
(RP). Friedrich Nietzsche (1844—1900) schockierte die Welt mit der Macht seiner Worte. Er beschwor den Tod Gottes, den Übermenschen und die ewige Wiederkunft des Gleichen. Mit seinen Zukunftsthesen war er seiner Zeit weit voraus, spielte mit dem Gerede vom "Herrenmenschen" aber auch den Nationalsozialisten in die Hände.
Es ist Wahnsinn, was sich an einem kalten Januartag im Jahr 1889 ereignet. In den Straßen von Turin beobachtet der 44-jährige Friedrich Nietzsche, wie ein Kutscher auf sein Pferd eindrischt. Er läuft auf die Straße und umarmt weinend den geschundenen Gaul. Passanten rufen die Polizei. Dann ist alles vorbei. Mit dem geistigen Zusammenbruch endet die Geschichte von Nietzsches Denken. Auf wundersame Weise schließt sich durch den Vorfall aber auch ein Kreis zur Mitleids-Ethik von Arthur Schopenhauer, seinem Erzieher, der ein Begründer des Tierschutzes war.
Mit Schopenhauers Werk hatte Nietzsches Leidenschaft für die Philosophie begonnen. Über den Vordenker bekennt er: "Hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte." Schopenhauers Pessimismus zog ihn an, weckte das Bedürfnis nach "Selbstzernagung". Daraufhin trat zu Studienzeiten die Philosophie an die frei gewordene Stelle der Religion in Nietzsches Leben.
Seit der Kindheit hatte Frömmigkeit eine besondere Rolle gespielt. Nietzsches Vater war protestantischer Pfarrer und erhielt vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. die Anstellung im Dorf Röcken in Sachsen-Anhalt. Aus Dankbarkeit benannte er seinen Sohn nach dem König. Der Vater jedoch starb früh, und Nietzsche wuchs unter Frauen auf — in einem Haushalt mit der Großmutter, zwei Tanten, der Mutter und Schwester Elisabeth, die dem Werk ihres Bruders später durch Fälschungen nachhaltig schaden sollte.
Zurück aber in die Schulzeit, in der sich das Kind bereits als auserwählt wahrnimmt. Mit zehn Jahren hat Nietzsche schon 50 Gedichte geschrieben. Als 14-Jähriger zieht er ins Internat Schulpforta, das bis heute als strenge Eliteschule geführt wird und in den ehemaligen Klostermauern den Geist früherer Zeiten konserviert. Neben Nietzsche erhielten dort auch Johann Gottlieb Fichte, Leopold von Ranke und Friedrich Gottlieb Klopstock ihre humanistische Bildung.
Nietzsche tritt dort bereits als Außenseiter auf, der selten unbefangen ist. Beteiligt er sich an Spielen, dann mit solchem Eifer, dass er Regel-Bücher schreibt und sie den Freunden vorlegt. So wächst er in die Rolle des Einsamen hinein, empfindet sie im Erwachsenenalter aber als selbstgewählte Stärke. Nur einen Versuch unternimmt er, um Geselligkeit zu erfahren: Nietzsche zieht zum Studium der Philologie ins Rheinland.
Mit Verwunderung registriert seine Familie, dass er in Bonn in die Burschenschaft Franconia eintritt, sich im Fechten und der Mensur übt. Dieser Versuch, Welt und Menschen besser zu verstehen, findet jedoch bald ein Ende. Auch an einem mehrtägigen Musikfest in Köln, bei dem Nietzsche singend und trinkend durch die Straßen zieht, findet er kein Gefallen. So geraten die beiden Semester in Bonn zum Tiefpunkt.
Auf diese Weise wird Nietzsche zum Entdecker der Innenwelt. Sein Verdienst ist eine neue Sensibilität, die er für menschliche Selbsttäuschungen weckte. Dahinter steht seine Theorie, dass alles Bewusstsein auf Irrtümern beruht und die Illusion eine notwendige Lebensbedingung ist.
Wie kaum ein anderer Philosoph hat Nietzsche selbstbezogen gedacht, verstieg sich am Ende in Größenwahn und unterzeichnete den letzten Brief mit "Der Gekreuzigte". Biografie und Werk müssen bei ihm somit immer eng zusammengesehen werden. Das erklärt auch das ungleich größere Interesse an seiner Person als bei anderen.
Nietzsches Leben lässt sich gut in Dekaden gliedern. Zwischen dem Eintritt in Schulpforta und dem Abschluss des Studiums liegen zehn Jahre Ausbildung. 24-jährig wird Nietzsche Professor der Philologie in Basel, wo er ebenfalls zehn Jahre wirkt. Ein weiteres Jahrzehnt bleibt für sein Schaffen, bevor die letzte Dekade von Geisteskrankheit gezeichnet ist.
Das Werk hingegen gliedert sich durch inhaltliche Brüche in drei Phasen. Die erste steht unter dem Eindruck der Vorbilder. In der zweiten, die seine wichtigsten Thesen hervorbrachte, knüpft er an aufklärerische Traditionen an, und in der dritten begründet er seine eigene Metaphysik. Einer der wesentlichen Auslöser für Nietzsches radikales Umdenken war das Ende der Freundschaft zum 31 Jahre älteren Richard Wagner.
Der schätzt den Diskurs mit dem jungen Gelehrten, so dass er ihm dauerhaft zwei Zimmer in seinem Haus zuweist. Gut zwei Jahre findet Nietzsche dort so etwas wie Heimat. Ein Gefühl, das er nie mehr haben wird und das ihn zum Wanderer macht: geistig und geografisch. Immer auf der Suche nach dem geeigneten Ort, zieht er durch Europa.
Auch Wagner zieht es bald nach Bayreuth, um den Grundstein für sein Festspielhaus zu legen. Noch vor den ersten Spielen 1876 kommt es zum Zerwürfnis. Wagner erzählt Nietzsche, wie ernst es ihm mit der Gestaltung der christlichen Motive im "Parsifal" ist. Der Philosoph verschwindet wortlos, wirft ihm später eine reichsdeutsche Gesinnung vor und dass Wagner "nicht der Seher einer Zukunft" sei, sondern Deuter und Verklärer einer Vergangenheit. Deutlich wird dabei, dass Nietzsche nur sich selbst als den Zukunfts-Propheten sieht.
Auf diese wichtigste Freundschaft folgt die zweite bedeutsame mit der Russin Lou Salomé, die Nietzsches Schülerin ist und in die er sich ernsthaft verliebt. Salomé wird die dritte Frau, die einen Heiratsantrag des Philosophen ausschlägt. Rückschauend ist davon auszugehen, dass Nietzsche nie einer Frau wirklich nahe kam. Sein Weltbild wertet Frauen aber auch auf eine Stufe unter die Männer herab. "Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!", heißt der berühmte Spruch aus dem Hauptwerk "Also sprach Zarathustra".
Jenes Werk ist in seiner Form neu und einmalig. Es wirkt durch Gleichnisse wie eine religiöse Abhandlung und ist auf höchstem sprachlichen Niveau geschrieben. Durch lyrische Vorbilder wie Hölderlin hatte Nietzsche einen Sprachstil entwickelt, ohne den sein Werk nie in dieser Weise gewirkt hätte. Er wollte schockieren, und mit der Macht seiner Worte erschienen seine Thesen ungleich kompromissloser als die der Vorgänger und Zeitgenossen.
Sehr zu seinem Vorteil ist Nietzsche dadurch in den Köpfen der Nachwelt Ideen verhaftet, die andere Urheber haben. Die Verkündigung des Todes Gottes etwa wird ihm gemeinhin zugesprochen. Den Gedanken jedoch äußerten schon Hegel 1802 und auch Heine 1830. Erst Nietzsche aber beschwor ein derart erschreckendes Szenario herauf, bei dem sich die Erde von der Sonne loskettet und ein Schwamm den Horizont wegwischt. "Ist es nicht kälter geworden?", fragt er in der "Fröhlichen Wissenschaft", und: "Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?"
Ähnlich verhält es sich mit seiner These von der ewigen Wiederkunft. Schon die alten Griechen und vor ihnen die Inder und Chinesen sprachen vom Kreislauf der Dinge. Wer einzelne Gedanken Nietzsches auf Originalität abklopft, wird immer wieder diese Entsprechungen finden. Der Philosoph muss daher vor allem als Gesamtphänomen gesehen werden. Nietzsche war ein Ereignis. Vor allem durch seine Zukunfts-Prognosen dachte er weit über seine Zeit hinaus und sah etwa ein geeintes Europa voraus.
Als "Philosoph mit dem Hammer" wird der zornige Denker auch betitelt, weil er mit allen etablierten Werten brach und eine neue Moral beschwor. Damit nahm Nietzsche den Trend zum Individualismus in unserer Kultur voraus, sah diesen allerdings nur als Privileg für Einzelne. Mit seiner Botschaft vom neuen Menschen, der die "dekadenten" Werte der bürgerlichen Gesellschaft überwindet, hatte er zudem tiefgehenden Einfluss auf die Avantgarden des Jugendstils und des Expressionismus.
Tragischerweise bedienten sich auch die Nationalsozialisten seines Gedankenguts. Sie missbrauchten sein leichtfertiges Gerede von den Ariern als "Herrenrasse", vom "Herrenmenschen" sowie seiner Abneigung gegen die Demokratie. Dabei blendeten sie aus, dass Nietzsche aus tiefer Überzeugung antideutsch war und die Juden im gegenwärtigen Europa als die "stärkste, zäheste und reinste Rasse" sah.
Bei der Instrumentalisierung spielte erneut die Schwester eine unglückselige Rolle. Kurz vor ihrem eigenen Tod schenkte sie Hitler den Spazierstock des Bruders.
120 Jahre nach dem Zusammenbruch in Turin bleibt bei vielen Interpreten die Frage offen, ob Nietzsche ein Genius der Deutschen oder nicht auch ein "bleicher Verbrecher" wie jener war, für den er im "Zarathustra" so viel Verständnis aufbrachte.